Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
der sie leitete. Jedenfalls wusste man nichts über seine Lebensweise, und das Gleiche galt für seine Wesenszüge. Er lenkte sorgfältig jedes Gespräch von seiner Privatsphäre ab und in allgemeine, neutrale Bahnen. Seine Frau war wegen religiösen Wahns in einer Nervenheilanstalt weggesperrt (sie hielt sich für die heilige Maria, schwanger mit dem Heiland und Erlöser), ganz im Gegensatz zu ihm selbst, der als verstockter Atheist weder den vermeintlichen Heiland im Schoß seiner unfruchtbaren Frau noch den früheren Erlöser aus Nazareth anerkannte. Jede unvorsichtige Frage, die sein Privatleben berühren konnte, war von vornherein dazu verdammt, offen und verwaist zu bleiben. In solchen Fällen pflegte Herr Stans seinen Gesprächspartner mit ruhigen, leicht erstaunten Augen anzustarren, als hätte der eine furchtbare Dummheit von sich gegeben. Hatte er sich dann, nach einigen Minuten unbehaglichen Schweigens, ausreichend an der Verlegenheit seines Gesprächspartners geweidet, verblüffte er ihn mit einer Bemerkung zu einem Thema, das noch gar nicht zur Sprache gekommen war und auch keinen Menschen interessierte, wie zum Beispiel:»Seine Majestät der Kaiser wird dem deutschen Kaiser demnächst einen Besuch abstatten, habe ich aus vertrauenswürdiger Quelle erfahren …«, und Ähnliches mehr. Eine gewollt dumme Bemerkung, die seinen Zuhörer noch mehr kränkte und ärgerte als die vorausgegangene Stille. Doch von derlei Ausnahmefällen abgesehen, war er ein höflicher Mensch, von jener ausgesuchten Höflichkeit, die jeder unerwünschten Intimität einen Riegel vorschiebt. Dabei war er kein vertrockneter Typ. Man spürte, er war ein Mensch mit inneren Werten, einem festen Kern, ein Mensch, den man nicht übergehen konnte.
Waldi löste sich aus seinen komplizierten Gedankengängen und kam auf alle viere. Dann sprang er von der Bank und tappte auf leisen Sohlen zu Dean, um vor ihm mit der Schwanzspitze zu wedeln. Sein Versuch, ihm auf den Schoß zu springen, wurde entschieden abgewehrt: »Geh weg!«
»Komm, Liebling, komm her«, erbarmte sich Frau Gisela seiner, aber Waldi gab ihrer Einladung nicht statt, beachtete sie gar nicht. Schicksalsergeben streckte er sich vor seinem Herrchen aus, ein weißer Fleck auf dem dunkelfarbenen Teppich. Sein Hundehirn wälzte vermutlich sehnliche Gedanken.
Marie Dean stand auf und tat einen Schritt ins Zimmer. Blieb einen Moment zwischen Felix von Brunnhof und ihrem Mann stehen, groß, schlank, wohlproportioniert. Ein offenes Lächeln huschte über ihre feinen Gesichtszüge. Sie schwärmte für ihren Mann, ohne völlig unkritisch zu sein, und fand ihn auch nach fünfzehn gemeinsamen Jahren immer noch interessanter als jeden anderen Mann.
Der Offizier warf ihr verstohlen bewundernde Seitenblicke zu. Marie Dean bückte sich und nahm Waldi auf den Arm. Mit ihrer gepflegten Hand strich sie dem Hund ein paarmal über den Rücken, wobei er seine Zunge, so lang undschmal wie ein Schmuckband, herausstreckte und ihr die Hand zu lecken versuchte. Dann setzte sie sich auf einen Polsterhocker und lauschte andächtig den Klavierklängen, die eben jetzt wie ein gedämpfter Hagelschauer aus dem Salon im Nebentrakt prasselten, die Noten eines Chopin-Walzers, die sich unter den Händen ihrer Tochter Martha zu einem wunderbaren Gespinst verwoben.
Frau Gisela schickte sich erneut an, durchs ganze Zimmer zu laufen, wie von einer unsichtbaren Peitsche getrieben. Die zarte, wehmütige Musik versüßte den langweiligen Regen draußen im Garten, machte ihn unwirklich, entführte den Menschen in eine Traumlandschaft, in der es einen Berg und noch eine Kuppe und eine verlassene Weide unter einem anderen Regen gab, und ein einzelnes Haus, das sich an einen Hang eben dieses Berges schmiegte. Dabei hielt ein merkwürdiger Sommer Einzug, sonderbarerweise rötlich, und Reiter galoppierten, galoppierten irgendwohin, und die Mähnen ihrer Pferde flogen im Wind, und Schaum sprühte aus ihren Mäulern, und Frau Gisela flatterte zwischen ihnen und wedelte mit großen Flügeln wie ein schwarzer Riesenvogel. Dann endete das Klavierspiel, und auf einen Streich war alles verschwunden, doch die Töne wirbelten noch im Raum, nunmehr abstrakt, unwirklich, existent und nicht existent zugleich.
»Sie spielt schön«, äußerte der Offizier mit veränderter, verträumter Stimme. Er war ein großer Musikliebhaber, konnte selbst virtuos Klavier spielen. In diesem Moment tauchten gelbe Getreidefelder vor seinen Augen auf
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