Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
Schlaf rauben würde. In solchen Stunden hasste er sich grenzenlos, hasste seinen langen, plumpen, ungelenken Körper, seine ewig forschende Seele mit ihren vielen Hemmungen, die jeden direkten, natürlichen Kontakt zu seinen Mitmenschen und zur Umwelt vereitelten und ihn zu krankhaften, verächtlichen Umwegen zwangen. In solchen Stunden hätte er sich bis zum Hals im Morast versenken mögen, um sich noch mehr zu hassen, um handfeste Gründe für seinen Selbsthass zu schaffen. Er hatte das Alter, in dem sensible Menschen den Punkt totaler, auswegloser Enttäuschung erreichen, und die Extremisten unter ihnen, die keine Kompromisse dulden, sich das Leben nehmen. Alle Schöpfung ist zum Sterben verdammt, alles Dasein zum Niedergang, und im Licht dieser Gewissheit verlieren alle Werte ihre Gültigkeit.
Das gemeinsame Mahl hatte eine gewisse Nähe zwischen den beiden Männern hergestellt, als kennten sie sich schon länger. Anker wurde sicherer, schwang sogar seinen Bambusstock hin und her und redete wie ein Wasserfall. Das Grauen vor der kommenden Nacht saß ihm im Nacken, erwollte es durch Reden unterdrücken, aber es lugte zwischen den Wörtern und Sätzen hervor, ja sickerte sogar in die Begriffe selbst ein und verfälschte ihren Sinn. Vor einem Kaffeehaus blieb er stehen, um sich die Brille mit einem Taschentuch zu putzen. Ohne Brille fand er sich noch armseliger mit seinen angestrengt blinzelnden Augen, dem geröteten Bogen über der Nasenwurzel und dem schräg gelegten Kopf. Er zog Rost ins Café. Sie tranken Portwein. Auf Ankers Pergamenthaut, nur auf der Mitte der einen Wange, bildete sich ein münzgroßer roter Fleck.
»Sie halten mich für einen armseligen Menschen«, sagte Anker, »geben Sie es zu.«
»Nein.«
»Aber ich bin ein armseliger Mensch. Ohne jeden Zweifel. Sehen Sie sich doch mein Gesicht an, meine ganze Figur.« Er machte eine wegwerfende Geste an seinem Körper hinunter.
»Ich finde keinerlei Grund«, erwiderte Rost mit einem flüchtigen Blick über seine Gestalt.
»Sie sind ein höflicher Mann.«
»Ganz und gar nicht.«
»Sehen Sie, ich bin für eine klare Rechnung: Das und das habe ich, das und das fehlt mir – fertig! Alles klar und präzise! Ich spiele nicht gern Verstecken mit mir.« Nach kurzem Schweigen: »Vielleicht gereicht mir das viele Geld zum Nachteil.«
»Dagegen gibt es Mittel und Wege«, lächelte Rost.
»Ich weiß nicht, ob ich die Kraft dazu aufbringe, ich bin ein verwöhnter Junge.«
»So sehr bedrückt Sie das Geld?«
»Die Leute merken es im Nu, auf einen Kilometer Entfernung, und man kann nie wissen, ob dieser Umstand ihr Verhalten mir gegenüber beeinflusst, selbst wenn sie keinen Vorteil davon haben.«
»Was macht’s Ihnen aus, sind Sie denn auf die Leute angewiesen? Sollen sie doch!«
»Und die Frauen – etwa meines guten Aussehens wegen?«
»Nicht deswegen!«, lächelte Rost mit der Geringschätzung junger Männer, die Erfolg haben, ohne sich dafür anstrengen zu müssen. »Zu denen führen viele Wege. Es kommt nicht auf Schönheit an. Je mehr Selbstvertrauen Sie ausstrahlen, desto mehr fliegen sie Ihnen zu.« Beim Sprechen spürte er, dass er ein bisschen log, dass es nicht immer so leicht war. »Man soll nie an ihnen verzweifeln. Für jeden Mann gibt es irgendwo eine Frau, die nur für ihn bestimmt ist. Meinen Sie denn, dass Sie alle Tage Ihres Erdenlebens keine einzige Frau finden werden, die Sie so liebt, wie Sie sind?«
Fritz Anker erwiderte nichts. Er bestellte noch was zu trinken und schlug dann einen Bordellbesuch vor. Rost lehnte zunächst ab, gab aber schließlich den Bitten seines Partners nach. Nach Verlassen des Kaffeehauses trat er an einen der Fiaker, die am Straßenrand standen, und nannte dem Kutscher, der ein Mondgesicht mit Schnurrbart hatte, die Adresse. Dort betraten sie ein äußerlich unscheinbares Haus und stiegen in den ersten Stock hinauf. Fritz Anker schien sich hier auszukennen. Er drückte den Klingelknopf neben einer Tür mit dem Schild: Madame Franzi Weißbecher, Masseuse .
Ein Dienstmädchen mit weißer Schürze führte sie durch einen Korridor in eine Art Salon mit dunkelroten Polstermöbeln. Gedämpftes rotes Licht schien von der Decke und von der Tischlampe in einer Ecke. Der Raum erinnerte entfernt an das Sprechzimmer eines Arztes. Durch eine andere Tür trat sogleich die Hausherrin im Abendkleid, eine höfliche Matrone um die vierzig, die noch Reste verwelkter Schönheit erkennen ließ. Sie begrüßte Anker wie
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