Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
die Wahrheit ist es, die dem Menschen Glück beschert. Basieren die Beziehungen des Menschen zu seinem Nächsten denn auf Wahrheit? Nicht mal die intimsten Freundschaften. Gäbe es die Lüge nicht, könnte die Welt nicht bestehen.«
»Es gibt nur eine einzige wissenschaftliche Wahrheit.«
»Na! Das ist eine Angelegenheit fürs Laboratorium, draußen hat sie keinen Platz und keinen Gebrauchswert.«
Greiner nahm Anker den Bambusstock aus der Hand, um mit der Spitze unsichtbare Figuren auf dem Kies zu malen. Dann schlug er damit Steinchen, wie mit einem Golfschläger. Die Sonne wich von den Baumwipfeln, in denen sich noch mehr Stille sammelte.
Erna spielte geistesabwesend mit ihrer Handtasche, warf Rost hin und wieder einen raschen Blick zu. Sie war jetzt in einer leichten, grundlosen Traurigkeit befangen, die ihr angenehm war.
»Und wann fangen wir an?«, wandte Greiner sich an Erna.
»Womit?«
»Ihr Porträt zu malen.«
»Ich will nicht«, lachte Erna.
»Aus welchem Grund? Ich habe das Gefühl, dass es der Höhepunkt meines Schaffens wird, ein geniales Bild.«
Erna sprang auf, ohne Antwort zu geben, wollte nach Hause gehen. Unzufriedenheit stieg in ihr auf. Dieses Treffen mit Rost, an das sie unwillkürlich die Hoffnung geknüpft hatte, es werde sich dabei etwas klären, was wiederum eine Veränderung und innere Ruhe nach sich ziehen würde, war erfolglos ausgegangen. Alles in ihr und um sie her war so kompliziert wie zuvor geblieben. Bei jeder günstigen Gelegenheit würde er sich wieder mit ihrer Mutter vergnügen, und sie, Erna, würde es mit Sicherheit wissen. Würde es instinktiv durch alle Mauern und Trennwände sehen, würde im Gymnasium sitzen und es sehen, würde draußen oder in ihrem Zimmer sein und es sehen, ohne die Augen abwenden zu können. Und ihr selbst, Erna, würde er keine Aufmerksamkeit schenken, sie gar nicht beachten. Sie war ja nur ein kleines Mädchen, vielleichtnicht mal schön, eine von vielen, die sich durch nichts auszeichnete.
Sie gingen durch Straßen, die sich schon für einen lauen und windstillen Abend bereitmachten, in Feierabendstimmung verfielen, zu der Zeit, wenn die Menschen nach des Tages Arbeit wie aus einem bedrückenden Traum erwachen und in wachsender Zahl Bürgersteige, Tramwagen und Kaffeehausterrassen bevölkern, angesichts der noch im weichen Sonnenschein leuchtenden Obergeschosse leichtes Bedauern im Herzen empfinden, dass wieder mal ein schöner Sommertag von ihnen unbemerkt vorbeigegangen ist. Aber unten, in den Straßenschluchten, hatte sich schon transparente Dämmerung ausgebreitet, und die tiefen Glockenschläge einer Kirche dröhnten finster und schwermütig, erinnerten an ein anderes, altes, dumpfes Dunkel, modrig, ungesund, beklemmend, das nichts von dem vertrauten und nahen Dunkel des Abends hatte, und verklangen wieder, während ihr Widerhall noch eine Weile die Luft erbeben ließ.
Erna versank in Trauer. Das Leben war ein Buch mit sieben Siegeln, unerforschlich, ein Wandschirm nach dem anderen – hatte man einen aus dem Weg geräumt, stand man vor dem nächsten.
Karl Greiner verabschiedete sich und bestieg eine Tram. Die anderen drei gingen eine Weile schweigend weiter. Sie waren nicht mehr weit entfernt von Ernas Zuhause. An der Straßenecke blieb sie abrupt stehen und verabschiedete sich hastig. Warf Rost einen Blick zu, als wollte sie etwas sagen, sagte aber nichts. Schnellen Schritts ging sie die ruhige Straße hinunter, geschmeidig mit ihrem schlanken, aufrechten, knabenhaften Körper, und ihr Zopf hüpfte auf ihrem hochmütigen Nacken wie ein eigenständiges Lebewesen.Trotz seines dringenden Verlangens, ihr dort nahe zu sein, in jener Wohnung, die ihm schon lieb und teuer geworden war, spürte Rost im Stillen, dass er heute Abend lieber nicht zu früh nach Hause kommen sollte, und nahm daher Fritz Ankers zögernden Vorschlag an, ein paar Stunden gemeinsam zu verbringen. Als Erstes suchten sie ein elegantes Restaurant auf, um zu Abend zu essen. Als sie etwa eine Stunde später, aufgewärmt durch das gute Mahl und den erlesenen, schweren italienischen Wein, wieder ins Freie traten, kam ihnen der Abend etwas kühl vor, und Fritz Anker verfiel in leichte, sinnlose Melancholie, die einige Stunden später in unerträgliche Traurigkeit übergehen würde. Anker kannte das nur zu gut – eine schwere, erdrückende Traurigkeit ohne echten Grund, die einem den Atem raubte, das Nachtlager in einen Grillrost verwandelte und ihm bis zum Morgen den
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