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Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vogel
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Überraschungen entgegen, die sie für dich bereithielten.
    Nicht so Fritz Anker. Er fürchtete den Blick auf die kommenden Tage, die ihm wie ein schwarzer, drohender Abgrund erschienen. Er fürchtete die Schmerzen, die er sich vielleicht notgedrungen selbst zufügen würde, wegen all der Umwälzungen, die ihm gewiss nichts Gutes verhießen, sah alles verkehrt voraus, als sei er mit einem seelischen Defekt behaftet. Als langer Lulatsch stapfte er durch die leeren Straßen, voller Verzweiflung. Er meinte seine Schritte separat, für sich hallen zu hören, nicht im Einklang mit seinen Weggenossen. Die nächtliche Frische nahm ihm den Rausch. Blitzartig stand ihm eine eigenartige Vision vor Augen: Zu dritt geleiteten sie ihn zu seiner Beerdigung. Er sah sich tot und starr im offenen Sarg liegen, die Brille in seinem Pergamentgesicht, das sich keinen Deut verändert hatte. Der Sarg schwebte vor ihnen in einiger Entfernung, nicht von Menschen getragen und auch nicht von einem Wagen, schwebte vielmehr langsam die Straße entlang, und sie drei gingen zum Geleit hinterher. All das dauerte nur einen kurzen Moment, war eine Art flüchtige Erscheinung, die im Nu wieder zerrann. Nein, da war nichts, nur ein einzelner Polizist ging in einiger Entfernung auf und ab, mitten auf dem Pflaster, und ein Stück weiter bogen zwei Prostituierte ohne Hast in eine Seitengasse.
    Er hustete kurz, um sich zu vergewissern, dass er ganz da war, unverändert. Trotzdem fühlte er sich in diesem Augenblick völlig fremd, und seine zwei Begleiter waren ihm näher, sympathischer als er sich selbst. Dieser Rost, der starke, blonde Bursche, den er erst seit einigen Stunden kannte, war ihm bereits eine feste Stütze für seine labile Existenz. Fortan würde er die Beziehung zu ihm kaum noch entbehren können, weil er sie als seelischen Rückhalt brauchte, dachte er. Er hatte noch nicht die Weisheit entdeckt, dass jeder Mensch sich selbst tragen muss, allein bis ans Ende seiner Tage, und dass dem, dem die nötigeSchwere dazu abgeht, auch sein Mitmensch nichts nützen kann.
    Sie betraten ein Kaffeehaus in der Ringstraße, um Mokka zu trinken. Der Saal war schon fast leer, wirkte eigenartig verwaist. Ein paar wenige Gäste brüteten über ihren Wassergläsern, hier einer und dort einer. An einem Tisch saßen zwei junge Mädchen, von denen die eine sich gerade Rouge auflegte. Ein Hauch von Langeweile und nervöser, nachmitternächtlicher Wachheit lag über allem. Rost nippte mechanisch an seinem Mokka, und ein warmes Gefühl stieg in ihm auf, als er sich das laue, von jungfräulicher Reinheit erfüllte Halbdunkel in Ernas Zimmer vorstellte, dessen Inneres er gar nicht kannte und das er doch intuitiv erfasste, als sei es ihm längst vertraut. Vor seinen Augen tauchte Ernas Bild auf, wie sie warm und glatt in ihrem weißen Bett lag, die entspannten, zarten Glieder von sich streckte, ein Arm baumelte über den Bettrand zu Boden, und ihr ruhiger Atem verteilte sich im stillen Raum. Ein Schwall von Wärme durchlief ihn.
    »All das«, sagte Fritz Anker zu niemandem, »ist wenig, sehr wenig. Ich frage mich, wo der Kern der Sache steckt, die Quintessenz.«
    Leichter Puderduft, vage und flüchtig, wehte von den zwei jungen Mädchen herüber. Felix von Brunnhof blickte Anker kurz an. »Der Kern der Sache – dem jagen wir unser Leben lang nach, aber wenn wir ihn dann in Händen halten, merken wir sogleich, dass es eine Trugvorstellung war, und jagen erneut diesem Irrlicht nach.«
    »Wenn dem so ist, dann sagen Sie mir doch mal, warum und wozu?« Mit routinierter, mechanischer Geste schob Anker die Brille gerade und fixierte den Offizier.
    Der sagte seelenruhig: »Vielleicht nur der Verfolgung wegen.«
    »Die interessiert mich nicht.«
    »Leben«, fuhr von Brunnhof unbeirrt fort, »bedeutet nicht Erfolg, sondern ständige Jagd danach. Ewig unersättliches Verlangen – das ist das Leben. Sobald Sie gesättigt sind, sind Sie ja so gut wie tot.«
    Rost langweilte sich ein wenig. Was gab es da zu philosophieren? Jeder Augenblick hatte etwas Schönes, jeder Tag, jede Nacht, jeder Regentropfen, jeder Windstoß. Prickelndes Leben gab es in der Bewegung wie im Ruhezustand. Selbst der Berg, der sich nicht von der Stelle rührte, hatte Leben in sich stecken. Und wenn er einmal an den Punkt gelangen sollte, an dem er die Schönheit, das ewige Pulsieren nicht mehr spürte – dann würde er Schluss machen. Jedenfalls würde er nicht dasitzen und philosophieren. Aber diesen Punkt

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