Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
hören. Ein Weilchen später sagte sie, mehr zu sich selbst als zu ihm: »Sie sind plötzlich zusammen aufgetaucht. Der Sohn und seine Mutter, eine englische Matrone, so lang und vertrocknet wie ein Besenstiel, zischend und abgehackt hat sie gesprochen, als hätte sie eine Pfeife im Mund. Ich weiß nicht, wie sie meine Unterkunft erfahren hatten. Sie erklärten, sie wollten für uns sorgen. Ein alleinstehendes Mädchen mit einem kleinen Baby und ohne Geld, völlig mittellos … Ich war noch sehr geschwächt nach der Schwangerschaft mit Hunger, Schwerstarbeit, Abenteuern und Leiden, und nach der lebensbedrohlichen Geburt. Das Baby war erst sechs Wochen alt. Und ich glaubte ihnen. Ich war auch noch sehr jung. Was kann man schon verlangen – eine Siebzehnjährige, die vor knapp einem Jahr noch die Schulbank im Gymnasium gedrückt hatte! Sie gaben mir Geld, um drunten ein paar Dinge einzukaufen. Sie würden hier warten, um auf das Baby aufzupassen. Schließlich hätten sie eine Verbindung zu diesem Kind, und auch zu mir natürlich. Und als ich eine halbe Stunde später zurückkam, fand ich niemanden mehr vor. Nur einen leeren Kinderwagen und einen Brief auf dem Tisch.«
»Und da war nichts mehr zu machen?«
»Da war nichts mehr zu machen. Wo willst du suchen, wenn du nichts über sie weißt! Nicht mal den Namen! In dem Brief stand, sie würden das Kind nach England mitnehmen. Es war von ihm, und ich kannte seinen Namen nicht, wusste gar nicht, was mir in jener Nacht geschah. Ich war völlig berauscht gewesen. Als ich am nächsten Morgen, nach dem Maskenball am Gymnasium, aufwachte, fand ich mich in einem fremden Hotelzimmer wieder, mit jenem Engländer, den ich vorher noch nie gesehen hatte. Er fuhr mich im Auto nach Hause, und die Affäre war vorbei.«
»Und du hast ihn nicht wiedergesehen.«
»Ich habe ihn ein- oder zweimal zufällig getroffen, ein paar Monate später, nachdem meine Eltern mich aus dem Haus gejagt hatten. Er wollte mir Geld geben, aber ich habe ihm ins Gesicht gespuckt.«
Sie raffte ihre Rockschöße zusammen und wickelte sich fest ein, als wäre ihr kalt. Ihre Augen starrten geradeaus, wie durch eine Mauer, in verborgene Weiten. Oder vielleicht blickten sie auch nur ins Innere, in die Seele.
Rost legte ihr die Hand auf den Leib. Durch den Satinstoff spürte er die Wärme ihres glatten, weichen Körpers, den unter der jähen Berührung ein leichter Schauder überlief. Sie wandte ihm das Gesicht zu. Es war wunderschön in diesem Moment, mit edlen, sprechenden Zügen. Dann schmiegte sie sich enger an ihn. Schutzsuchend legte sie den Kopf auf seinen Schoß und verharrte still, reglos. Rost umschloss eine ihrer kleinen Brüste mit der Hand.
»Und später?«
»Später?«
Sie schreckte hoch und saß nun aufrecht. Ein neuer Wutschwall brandete in ihr auf, beschleunigte ihren Atem. Sie bebte am ganzen Leib vor Zorn. Nur mit Mühe gelang es ihr, ihre Handtasche zu öffnen, die am Kopfende des Bettes lag, und ihr Taschentuch herauszuholen. Sie putzte sich geräuschvolldie Nase. »Später? Ich hatte fälschlich geglaubt, den Eltern würde irgendwann weich ums Herz werden. Ich habe sie nicht gebeten, mich wieder aufzunehmen, wirklich nicht, nur dass sie mir helfen sollten, das Baby zu suchen, mehr nicht. An wen hätte ich mich denn sonst wenden sollen?! Ich habe meinen Stolz heruntergeschluckt und ihnen geschrieben. Eine Woche später habe ich einen zweiten Brief geschickt, verstehst du, zweimal habe ich geschrieben.«
»Und es kam keine Antwort.«
»Als hätte ich die Briefe in die Seine geworfen. Nach sechs Wochen habe ich mich vor die Haustür gestellt, um meinen Vater bei der Rückkehr vom Büro abzupassen. Er tat so, als kenne er mich nicht. Wollte an mir vorbeigehen, als wäre ich ein Ding, ein lebloser Gegenstand. Als ich ihm den Weg versperrte, stieß er mich so heftig beiseite, dass ich auf den Bürgersteig fiel. Da habe ich einen Tobsuchtsanfall bekommen. Alles, was sich in mir aufgestaut hatte, hat sich mit einem Schlag Luft gemacht. Ich habe ihn angesprungen, geohrfeigt, gebissen, gekratzt, ihm die Brille zerbrochen, ihn zusammengeschlagen. Hätte ich eine Pistole gehabt, hätte ich ihn erschossen. Nur mit Mühe gelang es der Concierge und ihrem Sohn, mich von ihm loszureißen. Die Concierge holte mich herein, umsorgte mich, bemühte sich mit allen Mitteln, mich zu beruhigen, und ich saß nur da und heulte. Lange habe ich geweint. Dann bin ich weggegangen. Bin stundenlang ziellos durch die
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