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Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vogel
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Straßen gewandert. Es war schon Abend, und ich streunte weiter umher, ein Wunder, dass ich mir damals nicht das Leben genommen habe. Wahrscheinlich nur, weil es mir vor lauter Dummheit nicht in den Sinn gekommen ist. Schließlich machte sich ein Mann an mich ran, ging neben mir her und redete was. Ich wies ihn nicht ab. Ließ ihn machen. Er führte mich in ein Restaurant. Ich aß mechanisch und betrank mich. Blieb beiihm. Zwei Wochen später habe ich ihn verlassen. Warum ich ihn verlassen habe? Das weiß ich selber nicht. Er war ein netter Mensch, umgab mich mit Liebe. Vielleicht gerade deshalb. Ich konnte diese große Güte nicht mehr annehmen. Bei mir war alles schon hart und versteinert. Er war sehr traurig, als ich ging.«
    Rost trank einen Schluck aus seinem Glas und zündete sich eine Zigarette an. Die Frau erbat auch eine. Seine Uhr zeigte zehn vor drei. Er war also erst eine Stunde hier, aber es kam ihm vor, als wären mindestens drei vergangen. Er stand auf und trat ans Fenster. Die Gasse war menschenleer. Die elektrischen Straßenlaternen ergossen ihr Licht umsonst. Es schien wieder zu nieseln. In seiner Heimatstadt waren die Straßen nur spärlich durch vereinzelte Laternen beleuchtet gewesen, und es hatte dort ein schwacher, leicht süßlicher Fliederduft in der Luft geschwebt, der bei jedem sanften Windhauch auflebte und sich mit dem gänzlich unverdorbenen, befreiten Lachen junger Menschen verquickte. Doch aus den umliegenden Straßen, wo die Häuser mit den roten Fenstern standen, war hin und wieder ein anderes Lachen herübergeweht, parfümiert und heiser und frivol, ein Lachen, das seine Straße in ihrem ruhigen, friedlichen Dunkel ebenfalls aufgesogen hatte. Aber er, Rost, war jetzt nicht dort. War schon vor Langem dort weggegangen.
    Er drehte sich wieder der Zimmermitte zu. Die Frau rauchte schweigend. Rost betrachtete sie einen Moment. Plötzlich sah er die ganze Szene vor Augen: Ein penibler Beamter, den er sich seltsamerweise mit Bart und Schnauzer vorstellte, von seinen Mitmenschen geachtet und Herr in seinem Haus, kommt eines Nachmittags nichtsahnend aus dem Büro, und da überfällt ihn vor seiner Haustür die ungeratene Tochter, die aus seinem Haus und seiner Erinnerung vertrieben war, versetzt ihm Ohrfeigen, zertrümmert seine Brille, reißt ihm die Krawatte vom Hals und veranstalteteinen öffentlichen Skandal vor den Nachbarn und vor der Concierge.
    Rost lachte laut auf. Die Frau sah ihn verständnislos an. »Hm, ja«, stieß er hervor, »nicht schlecht.« Er schenkte die Gläser neu ein und reichte ihr ihres. »Trinken wir auf deine Courage!«
    »Meine Courage? Ja, prima! Auf meine Courage … Haha, ich … Du meinst, ich hätte nicht genug Courage … Komm her zu mir, du bist doch ein Mann.«
    »Das will ich meinen.«
    »Gefalle ich dir?«
    »Das kann man sagen, ja.«
    »Und warum küsst du mich nicht? He, wie eine Feuersbrunst! Küss mich zu Tode.«

1
    Vor zwanzig Jahren erschien Michael Rost in einer der Hauptstädte Europas, deren Kaiser schon ein greiser Mann war, ein wenig deppert, mit üppigem Backenbart beiderseits des rasierten Kinns. Die Stadt war alt, den Nebeln des Mittelalters entrissen mit ihren Türmen und gotischen Kirchen, sie lag an einem breiten Strom. Und Michael Rost war achtzehn Jahre alt, ein großgewachsener blonder Jüngling ohne einen Bekannten und Geld. Er befand sich auf halbem Weg zu einem der Länder des Nahen Ostens, einem seit Jahrtausenden öden und verlassenen Landstrich, den eine Handvoll beseelter Menschen, die sich der fernen Vergangenheit verbunden fühlten, mit harter Arbeit und kraft ihrer flammenden Begeisterung wiederzuerwecken suchten. In seiner Geburtsstadt hatte er seinen Vater, der Lehrer war, seine Mutter und ein paar Schwestern zurückgelassen. Er fand die Stadt, in die er durch Zufall geraten war, nicht schlechter als andere, und eigentlich gab es keinen Grund, die Reise fortzusetzen. Hier konnte er sich ebenso gut niederlassen wie an jedem anderen Ort. Von den fünf Kronen, die ihm nach den Abenteuern der weiten Fahrt noch geblieben waren, zahlte er die Miete für eine Woche Unterkunft in der Wohnung von Frau Schatzmann, Wanzen und Flöhe inbegriffen, und aß ein paar fade Mahlzeiten in einer Volksküche. Dann sagte Frau Schatzmann, indem sie den Daumen an Zeige- und Mittelfinger rieb: »Moneten, junger Bursche, Moneten – bei mir wird im Voraus bezahlt. Solche komischen Vögel!« Rost wusste nicht genau, welcher Sorte Vögel sie ihn

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