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Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vogel
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sich in die Kurse und »zum Volk« flüchteten. Fröhlich und schön waren sie in der Schulzeit gewesen, mit langen Haaren und roten Wangen, hatten kokett den geschniegelten Offizieren zugelächelt. Manchmal willigten sie in eine Schlittenfahrt mit jenen Offizieren ein, tranken hinterher Weinbrand und tanzten zu Akkordeonklängen, und einige ließen sich zur »freien Liebe« verlocken und mussten dann einige Zeit später die nahe Provinzhauptstadt aufsuchen, um »einen Darmverschluss« operieren zu lassen. Daheim spielten sich Dramen ab. Die Mutter weinte, der Vater haute mit der Faust auf den Tisch, und die Tochter protestierte: »Die Welt hat sich verändert! Ihr seid von der alten Generation! Wir wissen es besser!« All das geschah im Geheimen, und die ganze Stadt kannte die Wahrheit.
    Er bog in die Ringstraße, in der Trams und Kutschen hin und her ratterten. Mit der Lebensfreude eines warmen Sommertags und in der stillen Hoffnung, Erna zu begegnen, lenkte er seine Schritte zum Volksgarten, stieß jedoch unweit des Tors auf den einäugigen Jan, der schnurstracks auf ihn zukam. Da er Rost schon entdeckt hatte, war kein Ausweichen mehr möglich. Sie gingen aufeinander zu und blieben stehen.
    Jan verzog das Gesicht zu einer abscheulichen Fratze.»Ich hab noch eine kleine Rechnung mit dir zu begleichen.« Er fixierte ihn mit seinem einzigen Auge.
    »Du irrst. Wir haben keine offenen Rechnungen.« Rost verfolgte die Gesten seines Gegners.
    »Wenn dein Gedächtnis schwach ist, kann ich dir helfen.«
    »Mein Gedächtnis ist nicht schwach, und ich warne dich, mir lieber aus dem Weg zu gehen.«
    Jan war kleiner als er, aber massiv und breitschultrig. Er mochte dreißig Jahre alt sein.
    »Siehst du«, wechselte Jan plötzlich den Ton, »ich bin nicht auf Krieg aus, sondern auf Frieden. Du gefällst mir.«
    »Und?«
    »Wir heben einen zusammen. Was war – Schwamm drüber. Ich lade dich ein.«
    Rost witterte eine verborgene Falle. Er wäre ohnehin nicht mit Jan bechern gegangen.
    »Ich möchte nicht«, entgegnete er entschieden.
    »Du weist also die ausgestreckte Hand zurück. Gut, wir werden uns noch wiedersehen.«
    » Wir werden uns nicht wiedersehen «, sagte Rost, jedes Wort betonend, »wenn du was zu sagen hast, dann sag es jetzt.«
    »Ich werde es dir in einer dunklen Ecke sagen.«
    »Du bist ein Hasenfuß.«
    »Das werden wir noch sehen«, quetschte Jan zwischen den Zähnen hervor, und sein einziges Auge sprühte Funken bestialischer Wut.
    »Jedenfalls wird dir eine zweite Begegnung nicht zur Ehre gereichen«, schloss Rost und ging forsch davon. Angespannt lauschte er nach hinten, hörte aber keine Schritte. Offenbar hatte der Halbblinde es diesmal mit ihm aufgegeben. Trotzdem nahm er nach dem Tor des Volksgartens nicht die Hauptallee, sondern bog rechts in einen Seitenpfad. Vorsichtwar geboten, damit der andere ihn nicht etwa von hinten anfiel. Nach wenigen Schritten blieb er stehen und beobachtete durch die Gitterstäbe den weiten Vorplatz des Gartens, den gerade ein paar Passanten überquerten. Von weitem sah er Jan mit seinem Hut in die Gegenrichtung davongehen, und sein Gemüt kühlte sich etwas ab. Nun wandte er sich um und betrat wieder die Hauptallee.
    Es war halb fünf Uhr. Rost schlenderte gemächlich die Alleen auf und ab, dachte über die Leute nach, die spazieren gingen oder auf den Stühlen und Bänken saßen. Im Gartencafé stimmte die Kapelle schon ihre Instrumente fürs Nachmittagskonzert. Nein, wenn sie hatte kommen wollen, hätte sie um diese Uhrzeit schon da sein müssen.
    Er hatte keine Lust, im Volksgarten zu bleiben, und verließ ihn durch ein anderes Tor, das zur Ringstraße führte, nicht weit von den Museen. Etwas enttäuscht ging er Richtung Oper. Obwohl er sich nicht mit Erna verabredet hatte, war er in innerster Seele sicher gewesen, sie anzutreffen, und jetzt kam er sich mit einem Schlag ziellos vor. Der Tag, der vor ihm lag, sah plötzlich leer aus. Gewiss, der Tag war noch so warm und schön und klar wie zuvor, die Kastanien an den Straßenrändern standen in voller Blüte, ging man an ihnen vorüber, schenkten sie einem zuweilen einen frischen, kühlen, belebenden Waldhauch, und hob man die Augen zu ihren krausen Wipfeln, sah man kein Fleckchen Himmelsblau – und doch fehlte etwas, all das war jetzt nicht mehr genug. Noch vor einer Stunde, sogar einer halben ja – aber jetzt nicht mehr.
    Der eigene Glanz der Dinge reichte nun nicht mehr aus, um sie schön zu machen. Jemand musste

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