Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
konnte heute nicht. Es sei schon spät für sie, sie müsse bald heim zum Abendbrot. Also verabredeten sie sich für den nächsten Tag.
Erna war heute empfänglich für ihn, nicht so störrisch wie sonst immer, und Rost genoss diese Minuten vollkommen und ungetrübt. Der elektrische Strom, der von ihr zu ihm floss, erfüllte ihn mit Glück. Mit einem Schlag gewann er die beglückende Gewissheit, jene intuitive Sicherheit, die keiner Beweise bedarf, dass er dieser geschmeidigen und aufrechten Erna – kapriziös und wechselhaft und brodelnd in ihrer Jugendlichkeit – keineswegs gleichgültig war. Er warf ihr einen zärtlichen Blick zu, den Erna prompt auffing und mit einem lieben Lächeln erwiderte, als hätte sie seine geheimen Gedanken erraten. Nein, sie hatten einander wirklich nichts zu sagen. Beide waren wohl im selben Moment von demselben starken Gefühl überwältigt, dem jedes Wort nur Abbruch getan hätte. Das Leben ringsum war ausgeschaltet, schien meilenweit entfernt zu sein, und sein unaufhörliches Lärmen und Treiben war nur noch schwach wahrzunehmen, wie hinter einer losen, scheinbar substanzlosen Barriere.
Eine Tram hielt an der nahen Haltestelle, Leute stiegen hastig aus und ein, dann fuhr sie klingelnd und ratternd weiter, und all das war unwirklich, fremdartig. An einem Nebentisch saß ein Mann mit Schnauzer und einer Warze neben der Nase, der energisch auf seinen Gesprächspartner, einen jungen Mann mit Stupsnase und erloschenen Augen, einredete – all das erfassten die Augen selbsttätig, ohne Beteiligung des Verstands.
Rost wagte ihre Hand zu streicheln, die lässig auf dem Tisch lag, und Erna ließ es geschehen. Dann wurde es Zeit zu gehen. Sie machten einen Umweg durch enge, dämmrige Gassen, in denen schon Abendessensgerüche und die matten,etwas kränklichen Strahlen der rasch untergehenden Sonne waberten. Kinder mit erhitzten Gesichtern beeilten sich, ihre Spiele noch vor dem nahenden Abendessen zu beenden, Dienstmädchen mit schneeweißen Schürzen überquerten die Straßen mit Krügen voll schäumenden Biers aus den nahen Beiseln. Feierabendstimmung zog in die Straßen der Großstadt ein. Langsam schlenderten sie den schmalen Bürgersteig entlang, ohne zu reden. An der Ecke ihrer Straße verabschiedete sich Rost und machte kehrt.
Gleich nach dem Abendessen in einem nahegelegenen Restaurant, in dem er von Zeit zu Zeit speiste, ging er nach Hause. Er wollte nur nachsehen, ob Briefe für ihn eingetroffen waren, und dann wieder weggehen. Er beabsichtigte, Dean anzurufen und sich mit ihm für den Abend zu verabreden, falls er frei war. Nein, es warteten keine Briefe auf ihn. Er setzte sich einen Augenblick in den Sessel. Es war völlig still im Haus, was darauf schließen ließ, dass an diesem schönen, lauen Abend alle ausgegangen waren. Doch wenige Minuten später klopfte Gertrud leise an die Tür und trat ein. Sofort stürzte sie sich mit erleichtertem Stöhnen auf ihn und überhäufte ihn mit Küssen auf Gesicht und Hals, ohne einen Ton von sich zu geben. Als sich ihr Gemüt etwas abgekühlt hatte, murmelte sie: »Ich kann nicht mehr. Ich weiß nicht, was aus mir werden soll. Ich bin mit der Kraft am Ende.«
Das elektrische Licht war nicht angeschaltet. Das Dunkel im Zimmer wurde nur durch einen Lichtstreifen gemildert, der von den erleuchteten Fenstern der Häuser gegenüber einfiel und ein schräges, langes Fenster an die Wand malte, dessen Zipfel ein Stück über den Boden reichte. Rost konnte Gertruds erhitztes Gesicht nicht sehen.
»Was ist denn passiert?«, fragte er leicht befremdet.
»Nichts ist passiert, zu meinem Leidwesen gar nichts.«
»Und warum dann diese Aufregung?«
»Verstehst du denn nicht«, flüsterte Gertrud nah an seinem Gesicht, und ihr Atem glühte, »verstehst du nicht, dass ich dich liebe?«
»Gut, das ist nichts Neues. Und was ist daran tragisch?« Sein Ton war kühl, abweisend, doch Gertrud in ihrer Erregung merkte es nicht. Sie barg seine Rechte in ihren beiden Händen auf dem Schoß und flüsterte wie zu sich selbst: »Sie sind vor kurzem weggegangen, er und Erna, und ich habe gewartet, wusste nicht, ob ich nicht vergeblich wartete wie schon so oft, wie ich immer warte, jede Stunde und jede Minute des Tages. Vielleicht darf man das einem Mann nicht verraten. Dabei kommt nie was Gutes raus. Ein Mann sollte das lieber nicht erfahren, aber ich kann nicht mehr. Du bist nie da, ich sehe dich nicht. Es muss ein Ende haben, ich kann nicht mehr.« Wieder
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