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Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vogel
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Fiaker an und brachte Rost bis vor dessen Haustür.

15
    Mischa der Anarchist lag rücklings im Krankenhausbett, mager und blass. Seine langen Beine reichten bis ans Fußende. Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht, als er Rost von weitem erkannte. Er streckte ihm schweigend seine knochige, feuchtheiße, schlaffe Hand entgegen. »Es geht mir etwas besser«, kam er der Frage zuvor, »aber ich spucke auf alles.«
    Rost zog den Stuhl ans Kopfende des Betts und setzte sich. Es war ein langer Saal mit zwei Reihen Betten an den Seiten und zwei Reihen Fenstern darüber, an der Sonnenseite hatte man die Vorhänge herabgelassen. Es roch nach Medikamenten, nach Karbol, nach Krankheiten.
    Mischa nahm einen Eiswürfel aus dem quadratischen schwarzen Becken auf seinem Nachtschrank und steckte ihn in den Mund, sein Adamsapfel hob und senkte sich beim Schlucken. Mit seinem Sechstagebart und den schweißklebenden Haarsträhnen an der Stirn erinnerte er Rost an eine verlassene, unkrautüberwucherte Ruine.
    »Hast du von dem Attentat gehört?«, flüsterte Rost.
    »Hab ich. Schade, dass es sein Ziel verfehlt hat. Nächstes Mal wird sauberere Arbeit geleistet werden.«
    »Sprich etwas leiser.«
    »Ich hab keine Angst. Was sollen sie mir schon tun?« Nach kurzer Pause: »Diesmal werde ich noch nicht sterben, das weiß ich, nicht dieses Mal. Die Zeit ist noch nicht gekommen.«
    Rost beobachtete einen Moment den Kranken im Nebenbett, der einen runden Glatzkopf, einen dicken Schnauzer und winzige Augen hatte. Er saugte eifrig an einem Orangenschnitz, den die plumpe Frau aus einfachen Verhältnissen, die an seinem Bett saß, ihm gereicht hatte.
    »Ich fürchte nicht den Tod, glaub mir«, sagte Mischa, »aber nicht jetzt und nicht hier. Alt werde ich nicht werden, dafür sorgen sie schon. Und wozu auch, kannst du mir das sagen? Achtundzwanzig, dreißig, und wenn es hoch kommt, fünfunddreißig Jahre – reicht das nicht? Doch allein werde ich hier nicht weggehen, das verspreche ich.« Mit einer schwachen Gebärde strich er sich das Haar zurück. Dabei rutschte der Ärmel des Krankenhausnachthemds aus grobem Stoff herunter und entblößte den mageren, behaarten Arm bis zum Ellbogen.
    Vor dem Fenster sah man Patienten mit ihren Verwandten auf den Gartenwegen spazieren oder auf den verstreut stehenden grünen Bänken sitzen. Auf einen Teil des gepflegten Rasens fiel die Sonne, die hinter dem Gebäude aufstieg. Die Besucher tuschelten mit ihren Kranken. Hin und wieder machte sich ein hohles, abgehacktes Husten Luft. Eine Atmosphäre beklemmender, verhaltener Festlichkeit herrschte im Saal. Hier wurde einem schlagartig klar, dass der Tod nicht erdichtet, sondern durchaus real ist, erbarmungslos auf Schritt und Tritt lauert. Nicht jener erhabene, rasche Heldentod, den die Dichter naiv besungen haben,sondern der niedrige, hinterlistige, hässliche Tod, der wahre Tod, bar jeder Poesie. Vor ihm gab es kein Entrinnen, er war immer da, bereit zuzuschlagen, ob du ihn nun beachtetest oder nicht, und in seinem Licht bekam das Leben eine andere Bedeutung, in seinem Licht waren alle Gesetze, die die Menschen sich gegeben hatten, aufgehoben.
    »So geht es auch«, entfuhr es Rost am Ende seines stillen Gedankengangs.
    »Und du siehst natürlich eine lange Strecke bis achtzig, vielleicht neunzig Jahre und sogar darüber hinaus vor dir, was?«
    »Ich befasse mich nicht damit. Ist mir egal.«
    »So ein unbekümmertes Leben, alles nach Maß und Gewicht. Eine Portion Ehefrau, eine Portion Kinder, ein Quäntchen Glück – ich spucke darauf !«
    »Meinst du mich?«, lächelte Rost.
    »Ich spreche im Allgemeinen. Ich bin für hohe Temperaturen, verstehst du, für den Schmelzpunkt! Langes Dahinsiechen – ist nicht nach meinem Geschmack. Ich – mit Volldampf voraus! Eine Spardose aufhängen und gelegentlich ein Kilogramm Gesundheit einwerfen, ein halbes Jahr Leben für die alten Tage aufsparen? Das sei mir fern! Altersheim – brauch ich nicht. Die Alten sollte man meines Erachtens aus der Welt schaffen. Ich meine, es gibt so einen Brauch bei einem wilden Volksstamm, den Alten Proviant für zwei Tage mitzugeben und sie zum Sterben in den Wald zu schicken. Das gefällt mir. Alter bedeutet Hässlichkeit, Verzerrung des Menschenbilds.« Beim Reden trat ihm leichte Röte auf die hageren Wangenknochen. Das Sprechen ermüdete ihn, und Rost machte eine Bemerkung darüber. Mischa schluckte noch einen Eiswürfel.
    »Ist mir eins. Der Tod braucht immer die Angst,

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