Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
dass er eintreffen würde, aber sie hatte trotzdem gewartet. Und als Friedel schließlich kam, um sie mit ins Freie zu schleppen, hatte sie nur in der Hoffnung eingewilligt, ihn vielleicht zufällig im Volksgarten zu treffen. Und nun saß sie ihm gegenüber, alles auf natürliche Weise, ganz einfach und selbstverständlich, und brachte es nicht mal fertig, ihn anzublicken oder ein Wort zu sagen. Sie saß nur da und schwamm im Glück, wie in einem sanften Fluss, der keinen Raum mehr für Wünsche ließ. Friedels Anwesenheit war ihr völlig aus dem Gedächtnis geschwunden, vielleicht selbst Rosts Anwesenheit. Das heißt, sie spürte ihn in ihrem Innern, in jedem ihrer Glieder wie das Blut, das in ihren Adern rann, spürte ihn drinnen noch mehr als draußen, als eigenes großes Erlebnis, vollkommen und eingegrenzt – alles nicht mit klarem Bewusstsein, nicht in Begriffen oder Bildern. Sie hätte ewig so weitersitzen können, bis ans Ende ihres Lebens. Wie aus weiter Ferne hörte sie das Gespräch zwischen Rost und Friedel und die Unterhaltungen an den Nebentischen, nur den Klang der Worte, nicht die Worte selbst. So schön war das Leben. So schön – und sie hatte es nicht gewusst. Schön und prall und auch traurig, zum Weinen, zum Schreien.
»Warum bist du denn so schweigsam, Erna?«, holte Friedel sie aus ihrem Dämmerzustand. Erna sah Friedel und Rost abwechselnd an. Dann schenkte sie Rost ein kleines, sanftes Lächeln, das einen Moment auf ihren Lippen verharrte. Da sitzt er vor dir, grübelte sie, in Fleisch und Blut. Du brauchst bloß ein Stückchen die Hand auszustrecken, um ihn zu berühren, und doch sehnst du dich nach ihm, als befände er sich in einer anderen, fernen Stadt.
»Die Träume eines jungen Mädchens, wer könnte sie erraten«, sagte Rost.
»Würden Sie sie gern kennen?«
»Sehr.«
»Vielleicht werde ich sie Ihnen einmal verraten«, lachte Erna.
»Wenn Sie schon alt sind?«
»Gewiss, wenn ich schon alt bin.«
»Bis dahin werden Sie alles vergessen haben, lieber vorher.«
»Übrigens werde ich nicht alt werden, will es nicht. Ich werde immer jung bleiben. Und danach –«
»Man muss ein schönes, inhaltsreiches Leben führen«, sagte Friedel, »damit man es in alten Tagen noch einmal im Geist durchleben, es noch einmal in der Erinnerung genießen kann. Sonst ist das Alter leer, bedrückend öde.«
Rost blickte sie verwundert an. Wo hatte Friedel das her? Er hätte nicht gedacht, dass sie solche Dinge von sich geben könnte.
»In welchem Buch haben Sie das gelesen?«
»Oh, das weiß ich von selbst. Das ist nicht schwer zu erkennen.«
»Ich weiß nicht, ob man sich das aussuchen kann«, sagte Erna, »ich nehme an, dass die meisten Menschen ein erzwungenes Leben führen, nicht das Leben, das sie gerne leben würden. Ist es nicht so?«
»Vermutlich ja, nur wenige können ihr Leben nach eigenem Willen gestalten.«
Erna sagte unvermittelt: »Ich frage mich zum Beispiel bei einem jungen Mann wie Ihnen – welches Ziel haben Sie sich gesetzt, was streben Sie an? Sie studieren nicht, tun auch sonst nichts. Rein gar nichts. Betrachten Sie meine Frage bitte nicht als aufdringlich, die Sache interessiert mich wirklich.«
»Vielleicht werde ich es Ihnen einmal verraten«, antwortete Rost ihr mit ihren eigenen Worten. Und kurz darauf: »Eine solche Frage hätte für meine Tante gepasst, so ich denn eine Tante hätte.«
Erna verzog unwillig das Gesicht. »Man kann jedenfalls sagen, dass Sie das sind, was man eine zweifelhafte Person nennt.«
»Das stimmt«, platzte Rost lachend heraus, »eine zweifelhafte Person.«
Darüber lachten sie alle.
Dann sagte Rost: »Aber Sie sind keine zweifelhafte Person, ganz und gar nicht. Sie sind ein schönes und sympathisches Mädchen.« Erna warf ihm einen kurzen, dankbaren Blick zu.
»Das finde ich auch«, bestärkte ihn Friedel.
Ein leichter Wind kam auf und wehte Rosts Haartolle zurück. Auf dem Operntor gegenüber baumelte noch zur Hälfte ein Sonnenstreifen, doch unten, zwischen den mächtigen Säulen, sammelten sich schon die Schatten als Vorboten des Abends. Friedel erhob sich zum Gehen. Sie habe heute Klavierstunde, von sechs bis sieben.
Eine Weile rauchte Rost schweigend, verfolgte die Rauchkringel, die der Wind ihm geradewegs vom Mund wegschnappte und verwehte. »Vorhin habe ich einen Blick in den Volksgarten geworfen. Dachte, Sie dort zu finden.«
»Und ich –«, begann Erna, ohne fortzufahren. Rost schlug eine Kutschfahrt vor, aber Erna
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