Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
fiel sie über ihn her und küsste und biss ihn mit solcher Leidenschaft, Macht und Ausdauer, dass man meinen konnte, sie wollte ihn erdrücken. Danach begann sie von neuem: »Und von dir möchte ich nur ein einziges Wort hören. Wirst du mich lieben? Nur ein Wort.«
»Selbstverständlich«, erwiderte Rost und zündete sich eine Zigarette an.
Nein, dachte er sich im Stillen, all das war schon reichlich übertrieben, wirklich übertrieben. Dann sagte er: »Wir müssen vorsichtig sein, sie können jeden Augenblick zurückkommen.«
»Kümmert mich nicht, mich kümmert nichts mehr. Ich will nur eines wissen, nur das sag mir: Warum sieht man dich überhaupt nicht?«
»Wieso sieht man mich nicht? Ich wohne doch hier, bin jeden Tag da.«
»Du wohnst hier und bist doch nicht da, bist nie anwesend. Das ist nur, weil du mich nicht mehr liebst, dennsonst würde man dich zu sehen bekommen. Und ich kann nicht mehr, kann nicht mehr«, wiederholte sie hartnäckig flüsternd, als wolle sie damit eine Lösung für ihr bohrendes Problem suchen.
Rost sagte etwas vorwurfsvoll: »In der ersten Zeit warst du anders, fröhlich, frei. Ich versteh das nicht. Du hast dich völlig verändert.«
»Ich habe mich überhaupt nicht verändert. Was soll ich machen? Ich liebe dich zu sehr. In dem Maß darf man nicht lieben. Es ist ein Verbrechen, so sehr zu lieben. Ich weiß nicht, wie ich es aushalten soll, wenn – ich weiß es nicht, es wird ein Unglück geschehen.«
Plötzlich tat sie ihm leid. In diesem Augenblick kam sie ihm bedauernswert vor. Er erfasste vage die Größe ihres Gefühls für ihn, das schon ans Lächerliche grenzte. Um sie ein wenig zu trösten, strich er ihr übers Haar und dann über die flaumigen Unterarme und über den Rücken, der in einen Morgenmantel aus seidigem Stoff gehüllt war. Danach stand er auf, um das Licht anzuschalten, das im ersten Augenblick die Augen blendete.
»Warum?«, fragte Gertrud. Er sah, dass ihre Augen tränennass waren.
»Ich muss gehen, bin mit einem Freund verabredet.«
»Wieder gehst du weg.« Ihre Stimme klang tieftraurig.
Den Rücken ihr zugewandt, stand Rost vor dem Spiegel am Kleiderschrank und kämmte sich. Vor sich im Spiegel sah er seitenverkehrt einen Teil des Zimmers und seiner Möbel, außer dem Sofa, auf dem Gertrud saß. Er hielt sich etwas zu lange mit seiner Frisur auf, als zögere er, Gertrud zu verlassen. Dann steckte er mit einem Ruck den Kamm in die Tasche und drehte sich um.
Gertrud saß weiter zusammengekauert da, den Kopf auf die Brust gesenkt, die weiß und bloß zwischen den klaffenden Rockaufschlägen hervorschimmerte. In diesem Augenblickhörte man nahende Schrittgeräusche und Stimmen im Flur.
Gertrud sprang erschrocken auf. »Wann?«, konnte sie gerade noch hastig fragen und schlüpfte hinaus, ohne seine Antwort abzuwarten. Er blieb noch einen Moment, bis Georg Stift und Erna aus dem Flur in den Salon verschwunden waren, und verließ dann sein Zimmer.
16
Die Kärntner Straße war hell erleuchtet und wimmelte von Spaziergängern, als Rost sie entlangschlenderte. Es war nicht weit bis zum Kaffeehaus, und er hatte noch Zeit. Er dachte an die Szene zuvor mit Gertrud, die einen unangenehmen Nachgeschmack bei ihm hinterlassen hatte. Die Sache nahm Formen an, die ihm gar nicht gefielen. Derlei Beziehungen, ohne jegliche Verpflichtung der einen oder anderen Seite, sollten nicht in eine so törichte Tragödie umschlagen. Er würde sich die Zügel nicht entgleiten lassen. Es musste bald Schluss damit sein.
Inzwischen war er im Kaffeehaus angelangt. Er setzte sich auf die Galerie, in einen Erker, dessen offene Fenster die ganze Straße überblickten. Gegenüber befand sich ein erleuchtetes Schaufenster, in dem einige Paare eleganter Damenschuhe ausgestellt waren. Rost genoss es, die Passanten zu beobachten, einen durchdringenden Blick auf die Frauen zu werfen, die in seinem Sichtfeld aufkreuzten und für immer wieder daraus verschwanden, und dabei zu überlegen, dass Erna sie samt und sonders an Anmut und allen sonstigen Vorzügen übertraf. Der Abend wehte ihm lau entgegen, sanft und weich und duftend von Frauenparfüm und vielleicht auch von üppigen Fliederblüten. Ja, Rost meinte einen zarten, feinen, schamhaften Hauch von Flieder zu wittern.
Dort, in seiner Geburtsstadt, strotzten der Pfarrgarten und die übrigen Gärten des Städtchens um diese Jahreszeit von echtem, blasslila Flieder, und die Burschen warfen hinter Holzstapeln hervor Liebesnoten zu den
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