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Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vogel
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Kopf an seine Schulter, als sei sie müde, bis ihr der breite Hut zur Seite rutschte. Der zarte Duft ihres Haars stieg ihm in die Nase, und er musste sich mit aller Kraft zurückhalten, um nicht die Lippen darauf zu drücken. Doch er wusste, dass man hier nicht zu schnell vorgehen durfte, um nichts kaputtzumachen. Mit einem Ruck löste sie sich aus seinen Armen.
    Auf einem schmalen, schattigen Pfad, der zwischen den Alleebäumen abzweigte, erreichten sie eine Wiese, die ganz und gar der Sonne ausgesetzt war, stellenweise noch niedergedrückt vom letzten Sonntag. Hier und da lagen Flaschen herum und zerknüllte, vergilbte, fettige Zeitungsstücke, die zum Einwickeln diversen Proviants gedient hatten. Hier herrschte noch ganz die Atmosphäre der Familienidyllen kleiner Angestellter und anständiger Arbeiter samt ihren unförmigen Frauen, die nicht vergaßen, ihre Sonntagskleider zu schürzen, ehe sie sich auf die Wiese setzten, und ihren schmuddeligen Kindern, die unweigerlich aus ihrenengen Kleidern quollen wie Blumen aus Blumentöpfen. Drei Tauben pickten verborgene Körner auf.
    Rost und Erna überquerten diagonal die Wiese und zwängten sich durchs Gebüsch an ihrem Rand. Stumm gingen sie einen schmalen, unbefestigten Pfad entlang, und die vorstehenden Zweige streiften ihre Kleidung. Nach wenigen Minuten erreichten sie eine kleine Lichtung, und Rost schlug vor, sich ein bisschen zu setzen. Hier herrschte tiefe, schier hörbare Stille, die durch das Summen einer verirrten Biene noch spürbarer wurde. Die Großstadt war fern, unsichtbar, unhörbar, nicht existent. Rost zog die Jacke aus und breitete sie über den Boden, damit Erna sich daraufsetzen konnte. Er selbst streckte sich neben ihr aus.
    »Es ist doch so, als ob wir gar nicht da wären«, bemerkte Erna nach kurzem Schweigen, »nicht in dieser Stadt und nicht auf dieser Welt. Wir sind sehr weit weg, nicht wahr?«
    »Wir sind fern der Welt, aber einander nah.«
    Erna stellte sich taub. Nahm den Hut ab und warf ihn unweit auf die Wiese.
    Rost streichelte ein oder zwei Mal ihr nächstliegendes Bein zwischen Knöchel und Wade. »Sind Sie mir auch nicht mehr böse, Erna?«
    »Böse? Warum?« Erna wirkte verlegen, dachte jedoch: So, für immer so verharren, bis ans Ende aller Tage, so neben ihm, und das azurblaue Himmelsgewölbe hoch droben und die Wand der Büsche ringsum und diese langgestreckte Ameise, die einen Grashalm bis zur äußersten Spitze erklomm, so sollte es immer bleiben. Und da beugte sich Rost plötzlich über sie und drückte ihr, ehe sie noch begriff, die Lippen auf den Mund zu einem langen Kuss, schlang ihr dabei im Kniestand die Arme wie eine Zange um den Nacken. Als er schließlich von ihr abließ, sah er, dass ihre Wangen hochrot waren. Sie schien zu lächeln, doch aus ihren Augen quollen zwei Tränen, die nicht herabrannen, und nun warsie es, die ihn an sich zog und sein Gesicht, seine Augen, sein Haar mit Küssen bedeckte, ohne Maß und Ende. Sie hielt sein Gesicht ganz nahe an ihres und betrachtete es so eingehend, als wollte sie sich seine Züge tief einprägen, um sie niemals zu vergessen. Dann legte sie seinen Kopf in ihren Schoß und fuhr mit ihren langen, feingliedrigen, gespreizten Fingern durch seinen blonden Schopf.
    »Und ich hatte gedacht, du könntest mich nicht ausstehen, meine wunderbare kleine Erna.« Er blickte von unten nach oben in ihr herabgebeugtes, blasses Gesicht, in ihre tiefsitzenden blauen Augen, die darin funkelten.
    »Ich kann dich nicht ausstehen und ich liebe dich. Ich könnte vor Liebe dahinschmelzen.«
    Nichts regte sich. Das Großstadtgetriebe war fern, unhörbar. Stiller Sommerglast umfing sie, nur sie beide. Außer ihnen gab es keinen Menschen auf Erden, außer ihnen existierte nichts. Sie sprachen nicht.
    Den Arm um ihre Taille geschlungen, saß Rost in einer Reihe mit Erna und sah vor sich hin. Jetzt war es wohl wirklich besser, aus der Wohnung auszuziehen, schoss es ihm durch den Kopf, und zwar aus mehreren Gründen. Er wandte Erna das Gesicht zu, und seine Augen konnten sich nicht sattsehen an ihren vor Reinheit und Hochgefühl strahlenden Zügen. Erna erwachte jäh und erinnerte sich, dass es Zeit zum Heimgehen war.
    Nachdem er Erna bis kurz vors Tor begleitet hatte, ging er in ein kleines Kaffeehaus und rief Fritz Anker an. Das Glück wollte es, dass er zu Hause und an diesem Abend frei war. Zehn Minuten später erschien Fritz Anker am vereinbarten Treffpunkt. Sie überquerten die Ringstraße und

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