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Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vogel
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und dessen Möglichkeiten in einem neuen Licht erscheinen. Er empfand Dankbarkeit gegenüber dieser Fremden, die ihr Leben drunten in der Gosse fristete, wo das der ordentlichen Bürger aufhörte. In diesem Augenblick hätte er sogar eine tiefere Verbindung zu ihr feststellen können, eine seelische Nähe oder, richtiger gesagt, eine gewisse Ähnlichkeit im Leben am Rand der Gesellschaft. Die Facette des – freiwilligen oder erzwungenen – Aufbegehrens war ihnen gleich, sie beide waren unkonventionelle, freie Menschen. Weder er noch sie waren abhängig von der Gesellschaft.
    Es war nicht die erste Nacht, die er in Gesellschaft einer Frau dieser Sorte verbrachte. Er spürte immer eine vage Gemeinsamkeit mit ihnen, und selbstredend hatte er ihnen gegenüber niemals Abscheu empfunden, doch jetzt erkannte er diese Verbindung erstmals in voller Geistesklarheit. Mit einem Schlag überkam ihn Mitleid, Mitleid mit sich selbst, weil es ihm nun so vorkam, als drehe sich sein ganzes Leben um nichts und wieder nichts, und Mitleid mit der nackten Frau neben ihm, die auf ein gutes Wort wartete, auf ein Wort der Liebe von wem auch immer, und sei es sogar von ihm, der absolut nichts zu bieten hatte, außer einem bisschen Geld, das nur ein eingebildetes, trügerisches Glück zu spenden vermochte. Trotzdem beugte er sich über sie und küsste sie auf den Mund.
    Sie schlang ihm die Arme um den Hals und zog ihn an sich, flüsterte ihm mit heißem Mundhauch Worte flehenden, plumpen Verlangens zu, erbärmlich nackte Worte, die trotzdem echtes Gefühl enthielten. Was Wunder, dachte Anker erleichtert, das ist doch dieselbe extreme, absoluteEinsamkeit, bis zum Wahnsinn, bis zur Atemlosigkeit, derselbe Blick ins Allerinnerste, die Sicht der Dinge in ihrer Verdorbenheit, in ihrer ultimativen Blöße, ohne Feigenblatt. Und als sei ihm nun mit einem Schlag deutlich geworden, dass er nicht allein war, dass sich noch eine lebende Seele mit ihm im Zimmer befand, fügte er hinzu: »Du wirst es nicht verstehen können. Und vielleicht ist es auch nicht nötig, besser so. Denn von hier an gibt es nur noch einen Ausweg, einen einzigen.«
    Die junge Frau setzte sich auf. »Vielleicht sollte ich jetzt lieber gehen? Weil du nicht –«
    »Nein, warum? Keineswegs, wir haben ja Zeit. Zu zweit ist die Nacht geselliger.« Und kurz darauf: »Im Gegenteil, ich finde, dass du ein nettes Mädchen bist, sehr nett.« Er zündete sich eine neue Zigarette an. »Weißt du, es gab mal einen Mann, einen Schriftsteller, der etwas Neues erfunden hat, eine Art Messgerät, wenn du willst, um das männliche Element bei der Frau und das weibliche Element beim Mann auszuloten, nicht mehr und nicht weniger. So und so viele weibliche Merkmale beim Mann – untauglich! Minderwertig! Denn Frauen sind nach seiner Lehrmeinung selbstverständlich niedrige Wesen, mit allen Mängeln behaftet, unfähig zur Genialität. Genialität! Er hat diese Erfindung gemacht und sich dann prompt das Leben genommen. Fertig aus! Als wäre es nicht einerlei im Hinblick auf den Kern der Sache. Mann, Frau – sind sie nicht allesamt höchst armselige Geschöpfe, stets bemitleidenswert, in allen Lebenslagen und unter allen Umständen? Und Genialität, Schöpferkraft, was sollen die uns wohl nützen und geben?! Mit oder ohne sie gibt es kein Heil, keine Verbesserung der Welt. Und sich das Leben nehmen – das ist eine ganz andere Sache! Das wäre zu prüfen! Aber jedenfalls nicht aus solchen Gründen. Ein Mann, der mit Krebs geschlagen ist, stell dir vor, der furchtbare Schmerzen leidet und bei völligklarem Verstand weiß, dass es keine Heilung gibt – was soll diesem Menschen wohl die Erkenntnis nützen, dass es Genialität auf der Welt gibt, dass es zum Beispiel Spinoza oder Kant oder Goethe oder wen auch immer auf Erden gegeben hat? Lindert das seine Schmerzen? Rettet es ihn vor dem Tod? All das ist nichts als Zeitvertreib, ein Mittel, um der Leere zu entrinnen, der unerträglichen Furcht, vor dem völligen Nichts zu stehen, das der Kern aller Dinge ist, dem alles entgegengeht. Ja.«
    Die ganze Zeit hatte er flüsternd gesprochen, ohne falsches Pathos, aber in eindringlichem Ton, voll verhaltener Trauer, jener endgültigen Trauer, die keine Hoffnung lässt. Er schien die Anwesenheit der nackten Frau völlig vergessen zu haben. Jetzt schwieg er, und das Zimmer schwieg, und die Stadt.
    Nach einer Weile bemerkte die junge Frau: »Es sind traurige Worte, die du da sagst, und auch deine Stimme ist

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