Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
dir und um dich her, läge nackt vor deinen Augen, überrascht bei seinem niemals endenden, verborgenen Treiben. Ein derart pralles Lebensgefühl hatte Anker schon lange nicht mehr verspürt. Diese Nacht erschien ihm glatt und sanft und schmeichelnd wie dunkler Samt. Vielleicht lohnte es sich doch, trotz allem. Solche Momente können die Härte des Schicksals mildern. Nein, entschied er im Stillen, jetzt würde er noch nicht nach Hause gehen.
Er legte sich wieder neben die Schlafende. In der Ferne durchbohrte plötzlich ein schrilles Tuten die ruhige Nacht, ein einziger Signalton, der aufheulte und erstarb, ohne wiederzukehren. Die Nacht schloss sich wieder, dichter als zuvor. In dem Moment versank Anker in einem unermesslich dunklen und tiefen Loch.
Anker wusste nicht mit Sicherheit, ob er eingedöst war. Er hätte schwören können, erst vor einer Minute die Augen zugetan zu haben. Sein Bewusstsein war nur für einen kurzen Moment abgetreten. Doch jetzt, da es sich ein wenig aufklarte, erfassten seine Sinne ein leises, verhaltenes Rascheln, ein unwirkliches, quasi abstraktes Rascheln, ganz in der Nähe. Mit geschlossenen Augen horchte er angespannt, völlig konzentriert, ohne sich zu regen. Jetzt war es still. Vielleicht hatten seine Sinne ihn getäuscht. Aber nein! Esbestand kein Zweifel. Da war eindeutig was Fremdes am Werk.
Nun öffnete er übervorsichtig die Augen zu einem schmalen Schlitz. Sofort stach ihm das Fenster gegenüber in die Augen, in dessen Dunkel sich schon ein zögerlicher Blauschimmer mischte. Ohne seine Lage zu verändern, wandte er den Blick nach rechts. Unweit des Bettes, neben dem Stuhl, über dessen Lehne er sein Jackett gehängt hatte, stand Gretel, immer noch nackt, und stöberte in seiner Brieftasche, die sie in der Hand hielt. Das war es also!
Anker beobachtete sie weiter im Liegen, ohne mit der Wimper zu zucken. Das Ganze war irgendwie lächerlich und kindisch, aber er war neugierig, wie es enden würde, als beträfe es ihn gar nicht. Gretel zog ein Bündel Hundert-Kronen-Scheine heraus. Sie klemmte sich die Brieftasche zwischen die Schenkel und zählte die Scheine, und Anker zählte mit. Das Bündel enthielt acht Scheine. Sie zählte sie zweimal durch, der Genauigkeit halber. Dann nahm sie zwei Scheine weg, steckte sie zwischen die Lippen und stand in Begriff, die anderen in die Brieftasche zurückzuschieben.
»Brauchst du denn nur zwei?«, sagte Anker in ruhigem Ton.
Gretel fuhr zusammen. Vor lauter Schreck glitt ihr die Brieftasche aus den Händen und fiel mit dumpfem Platschen auf den Stuhl, und die Geldscheine, auch die beiden zwischen ihren Lippen, flatterten herab und verstreuten sich im ganzen Zimmer. Im ersten Moment machte sie eine instinktive Gebärde, sich zu bücken und die Scheine aufzusammeln, unterließ es dann aber. Mit gesenkten Augen blieb sie erstarrt stehen, ratlos, schlaff, nackt, zutiefst erschrocken, als warte sie auf ihr Urteil.
Anker wartete ebenfalls schweigend, irgendwie amüsiert über die ganze Affäre. Langsam wurde die Stille zum Bersten aufgeladen, kaum noch zu ertragen.
Ohne den Blick zu heben, kratzte sich Gretel mechanisch und in dümmlicher Verlegenheit am Nabel und stammelte: »Ich wollte nicht … wirklich … es ist das erste Mal, dass ich … wirklich … ich bin nicht so eine …« Und einen Augenblick später, etwas mutiger: »Mein Sommermantel ist schon so abgetragen, und ich wollte nur …« Zögernd blickte sie ihn an.
»Sammel sie auf, und gib sie mir!«, befahl Anker.
Hastig gehorchte Gretel, sammelte die Scheine sorgfältig einen nach dem anderen auf und überreichte sie Anker. Der zählte sie penibel durch und steckte sie, ineinander gefaltet, in die Hosentasche. »Du hättest nur bitten sollen, vielleicht hätte ich nicht nein gesagt.«
Nun hatte sie den Mut wiedergefunden. »Ich habe gar nicht nachgedacht, erst vor ein paar Minuten, als ich aufwachte und dich schlafend fand, ist mir blitzschnell der Gedanke gekommen. Nein, stimmt nicht, was ich sage. In Wirklichkeit war ich nichts als neugierig, wollte nur sehen, was in deinen Taschen steckt, und als ich die vielen Scheine sah, konnte ich mich nicht beherrschen. Aber du musst nicht denken, dass das meine Art sei, ich schwöre dir, dass es das erste Mal bei mir war!«
»Klar!«, sagte er. »Schwamm drüber! Wir werden nicht mehr darüber sprechen.«
Gretel blieb in einiger Entfernung stehen, unschlüssig, was sie nun machen sollte. Trotzdem tat es ihr leid um die zwei
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