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Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vogel
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wissen konnten – und dieses Wissens wegen konnte man ihn vielleicht doch irgendwie beschuldigen …
    »Du bist ein komischer Mann«, sagte Gretel, »ganz anders als die anderen Männer.« Sie ergriff eine seiner Hände und streichelte sie sanft. »Was für wunderbare Hände duhast!«, rief sie begeistert. »Solche habe ich noch nie gesehen.«
    Anker lächelte schwach ohne erkennbaren Grund. Vor nicht allzu langer Zeit hatte noch jemand seine Hände bewundert, auch eine Frau, aber wer war das gewesen? Ach, ja! Das war die kleine Erna, Erna Stift. Eine warme Woge überschwemmte sein Herz bei dieser Erinnerung. Was für ein großartiges Mädchen. Dürfte er sie nur lieben! Er wäre fähig, sich vor ihren Augen die Pulsadern aufzuschneiden, für sie. Aber da musste man die Finger ein für alle Mal davon lassen, nicht für ihn war sie geschaffen. Plötzlich fiel ihm Rost ein. Blitzartig kam ihm die Erleuchtung, dass die beiden etwas miteinander hatten. Aber mit dem Mann würde sie künftig zu leiden haben, er würde sich nicht lange binden.
    Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihn wegen dieser Erna, die ohne den geringsten Zweifel leiden würde.
    Ankers Nerven waren schon etwas verwirrt, wie von ihrer richtigen Stelle abgetrennt vor Erregung und wegen der späten Nachtstunde, die dazu angetan ist, jedes Ding aufzubauschen, es aus seinem normalen Rahmen zu reißen und in der Phantasie hundertfach zu vergrößern, bis hin zur Katastrophe. Und wohl in dem Bedürfnis, jemanden zu beschützen, wandte er sich Gretel zu und begann ihr durchs Hemd sanft den Rücken zu streicheln, immer wieder langsam von oben nach unten, bis ihr ein leichter Schauder über den Rücken lief. Dann hob er seine Beine, die er bisher hatte baumeln lassen, streckte sich in ganzer Länge aus und zog Gretel an sich.
    Auf einen Ellbogen gestützt, das Gesicht nahe seinem, sah sie ihn einen Moment an, und in ihren feuchten Augen leuchtete so etwas wie Dankbarkeit. »Du kannst sehr nett sein«, flüsterte sie heftig atmend, »sehr nett.« Und siedrückte ihn mit Macht an sich. Hinterher schlief sie ein, den Kopf auf seinen Arm gelegt. Ein leises Lächeln ruhte auf ihren Zügen, befriedigt und entspannt. Im Schlaf füllten sich die Furchen, die das Leben ihnen eingegraben hatte, und sie wirkten nun völlig ruhig, strahlten sogar etwas von der Unschuld eines Kindergesichts aus.
    Behutsam zog Anker seinen Arm unter ihrem Kopf hervor. Sie schlug kurz die stumpfen Augen auf, ohne etwas zu sehen, ihre Lippen erschlafften ein wenig, dann schloss sie wieder die Lider. Anker spürte leichte Mattigkeit in den Gliedern und eine angenehme Wärme, die langsam verflog, aber schläfrig war er nicht. Vorsichtig setzte er sich auf.
    Er betrachtete die nackte junge Frau neben sich, ihre leicht gespreizten Beine. Da lag sie ohne jede Scham, echt wie die Natur selbst, völlig unverstellt, fähig, einfach zu genießen ohne viel Nachdenken, atmete ungestört neben ihm, atmete mit allen Poren ihres entspannten Körpers, genau wie ein sattes Tier.
    Einen flüchtigen Moment empfand er Neid. Dem gesellte sich eine gewisse Befriedigung hinzu, nicht die gewöhnliche körperliche Befriedigung der Sinne nach Erfüllung des Verlangens, sondern eine geistige Befriedigung, wegen der leiblichen Nähe, die sich zwischen ihm und dieser fremden Frau eingestellt hatte. Noch vor zwei Stunden hatte ihre Existenz außerhalb seines Sichtbereichs gelegen, war völlig unwirklich gewesen, und jetzt war sie in sein Leben eingedrungen, und er musste sie, wenn auch nicht immer bewusst, bis ans Ende seiner Tage mit sich tragen.
    Er war der Ansicht, auf der Welt ginge nichts verloren, jede noch so kleine und flüchtige Berührung mit einer Kreatur prägte sich tief der Seele ein, wie auf einer Grammophonplatte, und die Rillen ließen sich nie mehr löschen. Diese fremde Frau hatte sich, ob er wollte oder nicht, nun auf ewig einen Sitz in seiner Seele erobert, und dieser Umstandbelastete ihn nicht etwa, nein, freute ihn sogar. Mit einem Streich hatte die Nacht etwas von ihrem Schrecken verloren. Jetzt konnte er ohne ängstliches Zaudern sein Haus betreten. Trotzdem blieb er noch reglos sitzen.
    Die Atemzüge der schlafenden Frau gingen ruhig und regelmäßig. Die Nacht war dem Anschein nach leer, in Wirklichkeit aber voll bis zum Rand. Jedes ihrer Sprengsel sprühte vor Leben, glühte im Verborgenen. Es schien, als müsstest du nur das Licht anschalten, und dieses ganze unaufhörlich pulsierende Leben, in

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