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Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vogel
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traurig, besonders die Stimme. Warum steckst du so voller Trauer?« Als würde ihr plötzlich kalt, griff sie zu dem Stuhl hinüber, auf dem ihre Kleider lagen, nahm ihr Unterhemd und streifte es über den Kopf. »Wenn man dich so reden hört, bekommt man Lust zu weinen, untröstlich.«
    »Und wie heißt du?«
    Sie hieß Gretel, und hier, unter den Kolleginnen, nannte man sie »die Nonne«, weil sie schwermütig war, nicht fröhlich.
    »Eine schwere Kindheit, nehme ich an. Danach die Brutalität der Großstadt, extreme Geldnot, Hunger, ein attraktiver Mann, dann ein zweiter, und so weiter.«
    »Schon zu Hause«, sagte Gretel, »gab es einen Stiefvater. Ich war erst zehn. Einmal kam er angetrunken aus dem Wirtshaus zurück. Mutter war um die Zeit nicht daheim. Einen kurzen Moment betrachtete er mich mit schiefem, boshaftem Grinsen. Ich war dabei, ein Kleid für die kaputtePuppe, die ich gefunden hatte, zu nähen. Plötzlich packte er mich und warf mich aufs Sofa. Ich war sicher, er würde mich schlagen, wie er es sonst tat, wohl zum Vergnügen, aber diesmal haute er nicht. Seine Alkoholfahne raubte mir den Atem, und er tat mir weh. Ich weinte sehr. Hinterher sagte er: Jetzt den Mund halten! Wenn du ein einziges Wort ausplauderst, schneide ich dir die Zunge ab. Und er wäre tatsächlich dazu fähig gewesen. Von da an war ich ihm zu Willen, wann immer er es verlangte. Mit der Zeit gewöhnte ich mich daran, und es machte mir auch Spaß, weil es mir nicht mehr wehtat. Es war eine Art Spiel für mich. Ich machte es auch mit Jungs, meinen Freunden. Aber ihn, meinen Stiefvater, konnte ich nicht ertragen. Nach einiger Zeit verbarg er es nicht mehr vor Mutter. Sie wusste davon und sagte nichts. Sie hatte Angst vor ihm. Manchmal schlug er sie blutig. Jetzt schämte er sich gar nicht mehr. Mehr als einmal warf er mich vor ihren Augen aufs Sofa, und Mutter tat weiter ihr Tagewerk, ohne uns zu beachten, doch wenn sie mich hinterher in einer Ecke erwischte, teilte sie mir Schläge aus und nannte mich kleines Flittchen! Miststück! Sie selbst erwischte er einmal mit dem lahmen Johann. Da hat er sie so geschlagen, dass sie zwei Wochen krank war. Aber er nahm auch kein gutes Ende. Einmal fing er, in betrunkenem Zustand, Streit mit Poldi, dem Schmied, an – und da kriegte er seine Strafe. Denn dieser Poldi war auch kein Wickelkind. Zu Brei hat er ihn geschlagen. Sie brachten ihn, bis zur Unkenntlichkeit entstellt, nach Hause, und drei Tage später hauchte er seine Seele aus. Mutter weinte untröstlich über seinen Tod, aber mir tat es überhaupt nicht leid, ganz im Gegenteil. Damals war ich schon vierzehn Jahre alt.« Sie bat Anker um eine Zigarette, und als sie sie angezündet hatte, fuhr sie fort: »Danach bin ich nicht mehr lange daheimgeblieben. Mein Stiefvater war Schreiner gewesen, und obwohl er das meiste Geld versoffen hatte, wardoch noch etwas für den Haushalt übrig. Als er starb, blieben wir völlig mittellos zurück. Da bin ich ausgezogen.«
    Anker sah auf seine Uhr. Es war Viertel vor zwei. Aus dem Nebenzimmer klang eine Frauenstimme: »So will ich’s nicht! Das war nicht abgemacht – noch eine Krone extra.« Dann kehrte wieder Stille ein.
    Er legt eine Krone drauf, überlegte Anker beiläufig, weil er’s gerade so haben will, und das ist eine Krone mehr wert. Und die hier – sprang er in Gedanken zu Gretel über – erzählt das alles ohne eine Spur von Bitterkeit, schicksalsergeben, als sei das alles ganz natürlich. Im Alter von zwanzig oder dreiundzwanzig Jahren hat sie schon die Tiefen eines ganzen Lebens ausgeschöpft.
    Er wandte ihr den Blick zu. Sie saß da in ihrem rosa Unterhemd, das ihr bis über den Nabel reichte, und ihre langen, wohlgeformten Schenkel mit der weißschimmernden Haut echter Blondinen lagen ausgestreckt auf dem Bett, auf der Steppdecke, deren grünlicher Satin auf die Grundfarbe der Tapeten abgestimmt war. Aus einem spontanen Impuls, in dem ein Quäntchen Mitleid mitschwang, beugte er sich nieder und küsste ihre Schenkel, einen nach dem anderen. Darin lag so etwas wie eine Bitte um Vergebung, von ihr und allen anderen Geschöpfen, wegen der Zumutung des Lebens, dessen völliger Nichtigkeit, wegen der Täuschung, die diesem Leben zugrundelag. Konnte man ihm daraus auch keinen Vorwurf machen, ebenso wenig wie allen anderen Erdenbewohnern, wusste er es doch mit absoluter Gewissheit, ohne es leugnen oder vertuschen zu können, wusste es für sich selbst und für die anderen, die es nicht

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