Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)
die Pause hinein und strampelte sich aus Bernhards Armen frei.
„Tja, also …“ Edvard kniete sich hin und zog es an sich heran. „Frau Moll ist die Mama von Bernhard.“
Daraufhin kam die kleine Person zielstrebig auf mich zu, zupfte an meinem Kleid und sagte mit piepsiger Stimme: „Kennst du die Geschichte vom Hasensmöre?“
„Nein, die kenne ich nicht.“
„Dann lese ich sie dir vor.“
„Du kannst schon lesen?“ fragte ich erstaunt.
Edvard schüttelte den Kopf und legte dabei den Finger auf die Lippen. Ich verstand.
„Na klar!“ antwortete sie.
„Gut“, sagte ich und beugte mich vor. „Aber sag, kleines Mädchen, wer bist du?“ Ich schaute ihr jetzt direkt in die leuchtend blauen Augen. Ihr Gesicht war sehr rund, es war noch der Babyspeck, der auch an ihren Fingern zu sehen war. Das lockige Haar, von der Mütze plattgedrückt, schimmerte weißlich gelb, darunter sah ich den Ansatz von dunklerem Haar. In zwei oder drei Jahren würde sie braunes Haar haben, so war das bei meiner Sieglinde auch gewesen.
„Ich bin kein kleines Mädchen! Ich bin die Hannah-Yafia, aber alle sagen nur Hannah zu mir. Und ich bin schon fast drei Jahre und vier Monate alt.“ Ihr zuckersüßes Mündchen tat sich noch schwer, harte Konsonanten zu formulieren; das „k“ wollte ihr nicht so recht über die Lippen.
„Soso.“
„Sie ist die Tochter von Kim“, erklärte Bernhard. „Du weißt schon. Die Stewardeß aus dem Flugzeug damals.“
„Ach, ich erinnere mich dunkel. Und Sie sind dann wohl der …?“ Ich stockte.
„Nein, gnädige Frau“, antwortete Herr Bortalozzi. „Ich bin nicht der Vater. Kim ist meine Ziehtochter. Früher habe ich mich um sie gekümmert; heute kümmere ich mich um Hannah, weil Kim viel Arbeit hat – Gott sei Dank, muß ich sagen.“ Herrn Bortalozzi, dessen fleischige Ohren von der Kälte rot leuchteten, war Blut in die Wangen gestiegen. Wie dumm von mir, so etwas zu fragen.
Hannah stampfte davon, zerrte eine Kiste aus dem Arbeitszimmer, die mit Spielsachen bepackt war. Sie schien sich hier zu Hause zu fühlen. Sie kippte die Kiste neben meinem Stuhl aus und kramte ein kleines Büchlein hervor, das sie mir auffordernd in den Schoß legte. Dann kletterte sie hinterher, was nicht gerade angenehm war – die Polster auf meinen Knochen waren dünn geworden.
„Komm mal her, Goldlöckchen“, sagte Edvard und nahm sie mir ab. „Ich werde dir was vorlesen.“
Die Kleine hob an, ein Theater zu machen, da flüsterte ihr Edvard etwas ins Ohr. Sie grinste, kletterte von seinem Schoß herunter und verschwand im Schlafzimmer. Edvard folgte ihr: „Ihr entschuldigt, bitte.“
„Es tut mir leid, signora. Ich wußte nicht, daß die ragazzi Besuch haben, sonst hätte ich …“
Herr Bortalozzi hatte eine angenehme Stimme, und binnen kürzester Zeit hatte er mich in ein Gespräch verwickelt. Er war so intelligent und weit gereist, daß ich mir richtig ungebildet vorkam.
„Bernardo ist so ein wunderbarer, mitfühlender Mensch“, sagte er und schielte zu meinem Sohn hinüber. Und zum ersten Mal seit meiner Ankunft lächelte Bernhard ein wenig. „Jetzt weiß ich endlich, von wem er das hat.“
„Ich bitte Sie, ich bin doch nur eine alte Schachtel.“
„Aber, signora. Ihre Augen sind wie die von einem jungen Mädchen.“ Er beschämte mich; ich merkte, wie ich rot anlief. Ein eigenartiges Gefühl: Ich hatte so viele Jahre keine Komplimente mehr bekommen, daß es mich erschreckte.
„Jung? An mir ist nichts mehr jung. Bis vor drei Jahren habe ich noch getanzt. Heute bin ich froh, wenn ich überhaupt noch gehen kann.“
Seine Augen hatten etwas sehr Liebes, Warmes; er ließ sie lange auf mir ruhen, so lange, daß mir mein Kleid plötzlich zu kurz erschien.
„Ich muß leider schon wieder gehen“, sagte Herr Bortalozzi mit einem Blick auf seine Taschenuhr. „Ich hätte mich gerne weiter mit Ihnen unterhalten.“
„Vielleicht kommen Sie ja noch mal vorbei“, sagte ich und war erstaunt, diese Worte aus meinem Mund zu vernehmen.
„Wie lange bleiben Sie denn?“
Mit Bernhard hatte ich ausgemacht, daß ich Sonntag wieder fahren würde. „Ich weiß noch nicht genau“, sagte ich leise. „Vielleicht bis Montag oder Dienstag?“
„Ich habe leider nicht viel Zeit im Moment, aber ich werde mich melden. Ganz bestimmt.“ Er küßte noch einmal meine Hand, diesmal zog ich sie nicht zurück. Es war angenehm, von ihm berührt zu werden. Er hatte einen festen Griff und fühlte sich
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