Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)
nachbohren, bevor man herausbekam, was ihn quälte.
„Meine Mutter.“
„Aha! Und du meinst mit diesen beiden Worten ist alles erklärt?“ Als er nicht reagierte, setzte ich nach: „Lieber Bernhard. Wenn du möchtest, daß ich dich verstehe, dann mach um Himmels willen den Mund auf.“ Madonna mia! Das war ja nicht auszuhalten.
„Ich weiß nicht, was sie hier will!“
„Ihren Sohn besuchen. Was soll sie sonst wollen?“ Ich nutzte die Gelegenheit, um meinen Arm um seine Schulter zu legen.
„Mir das Leben zur Hölle machen?“
Ich blieb abrupt stehen. „Wieso? Was hat sie dir denn getan?“
„Nichts. Das ist es ja, was mich zum Wahnsinn treibt. Sie versteht sich blendend mit Edvard, er tuckt vor ihr rum, als wäre sie die Valentin, vermutlich zeigt er ihr gerade Urlaubsfotos, und bevor sie abfährt, hat sie ein Heft voller Kochrezepte von ihm.“
Wie er da vor mir stand und dieses „gewaltige“ Problem vortrug – manchmal war er einfach zum Schreien. Ich hatte alle Mühe, ernst zu bleiben, ich biß mir sogar auf den Finger, aber schließlich platzte es doch aus mir heraus.
„Du nimmst mich nicht ernst, Raimondo. Ich meine, da stimmt doch was nicht. Vor ein paar Jahren wollten sie mir noch den Tod meines Vaters anhängen, und jetzt …“
„Den Tod deines Vaters! Den Tod deines Vaters! Papperlapapp! Seit Jahren erzählst du mir von dem Drama um den Tod deines Vaters. Wann vergißt du das endlich? Es ist völliger Unsinn. Selbst wenn es jemals jemand gedacht hat, dann mußt du dir den Schuh doch nicht anziehen. Sieh dich nur mal an: ein Jammerlappen.“ Ich boxte ihm in die Brust, strich seinen Rücken gerade und hob seinen Kopf am Kinn. „Das ist der Bernhard, den ich kenne.“
„Du verstehst mich nicht, Raimondo.“ Er schaute mich hilflos an; seine Augen waren rot.
„Komm mir nicht damit“, sagte ich leise und schloß ihn in die Arme. Sein heißer Atem drang durch meinen Pullover bis auf meine Haut. Ich hielt ihn fest – das tat mir gut. „Ich habe dich in der Zeit kennengelernt, als dein Vater gerade gestorben war. Ich verstehe dich sehr wohl. Es sind die falschen Worte zur falschen Zeit gefallen, ein dummer Zufall, mehr nicht. Wie lange willst du das noch mit dir herumschleppen? Merkst du nicht, daß du am meisten darunter leidest?“
Er hob seinen Kopf von meiner Brust und schaute mich an. „Das sagst du so einfach.“
„Ich sage das, weil du das mit allem so machst, Bernhard. Du bist nachtragend wie ein Elefant; die erinnern sich auch fünfzig Jahre später noch an denjenigen, der sie einmal schief angeguckt hat.“ Ich hätte Bernhard gerne geküßt, aber so weit wagte ich mich nicht vor. „Du mußt lernen zu verzeihen. Menschen tun einander weh, andauernd, aber man muß ihnen auch erlauben, es wieder gutzumachen. Gib deiner Mutter eine Chance. Gib anderen eine Chance.“
„Weißt du“, fragte er, „daß sich bis heute niemand dafür entschuldigt hat? Meine Geschwister, meine Mutter, selbst Edvard und du: Von jedem kriege ich nur zu hören, daß es ein Mißverständnis war, aus der Situation entstanden, aus den Umständen heraus geboren. Und ich soll Verständnis dafür aufbringen, daß meine Familie mit meinem Schwulsein nicht umgehen kann. Aber verdammt, wer hat denn mal Verständnis für mich?“
Hannah drehte sich erschrocken um und lief zu uns. Ich legte einen Finger auf meine Lippen und bedeutete ihr, einen Moment Geduld zu haben. Sie gehorchte; Hannah wußte immer, wann es notwendig war.
„Ich glaube, ich verstehe zum ersten Mal, was du meinst“, sagte ich, und ich tat es wirklich. Es gibt nichts Schlimmeres, als eine Verletzung zu verursachen und nicht dafür zu sorgen, daß sie heilt.
„Mondo, mir ist kalt“, quäkte Hannah. „Wie lange müssen wir hier noch stehen?“ Wir schauten zu ihr hinunter. Die Mütze war ihr weit in die Stirn gerutscht, sie mußte den Kopf nach hinten heben, um uns zu sehen. Ihre Stupsnase leuchtete rot. Wir mußten lachen.
Kaum hatte ich meine Wohnungstür aufgeschlossen, kam uns der Pfleger entgegen, nahm seinen Parka von der Garderobe und wickelte sich den Schal um den Hals; er hatte offensichtlich schon auf uns gewartet. „Adrian schläft noch“, sagte er.
Ich bedankte mich für seine Geduld, drückte ihm Trinkgeld in die Hand und ließ ihn zu seinem date eilen, wie die jungen Leute heute zu sagen pflegen.
Ich wollte gerade die Tür schließen, da hechelte Kim die Treppe herauf. Sie steckte in einem bodenlangen schwarzen
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