Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
mehrere Zentimeter dicker geworden war.
Das Gefühl, vollkommen verloren zu sein, hätte sie beinahe wieder losheulen lassen. Doch ihr Magen knurrte, und der Duft nach Kuchen, Currywurst und Pommes verhinderte, dass die Verzweiflung sie übermannte.
Für ein ganzes Menü reichte ihr Geld nicht aus, denn sie musste noch etwas übriglassen, falls sie eine Fahrkarte brauchte. Doch für das, was sie zu investieren bereit war, bekam sie einen mit Nougat gefüllten Donut und einen großen Becher Kaffee. Das reichte schon, um ihre Lebensgeister wieder wachzurütteln.
Nachdem sie den Kuchen hinuntergeschlungen und ihren Kaffee zur Hälfte geleert hatte, fühlte sie sich wohlig schwer und müde, aber an Schlaf konnte sie nicht denken. Sie musste von hier weg, irgendwie.
Ihr Blick schweifte rüber zu den Truckern, die an der Stehtheke ihre Erlebnisse von vergangenen Fahrten austauschten. Würde einer von ihnen sie mitnehmen?
Nein, das erschien ihr zu windig. Nicht, weil Trucker allgemein Wüstlinge waren, doch wenn alle so fuhren wie der, der sie beinahe erfasst hatte …
Um etwas Zeit totzuschlagen und dabei nach einer Lösung für ihr Problem zu suchen, öffnete sie ihren Koffer. Vorsichtig zog sie das Märchenbuch hervor. Und als würde eine seltsame Magie von ihm ausgehen, wurde ihr plötzlich etwas leichter ums Herz. Sie fühlte sich wieder in ihre Kindheit versetzt, eine Zeit, in der alles irgendwie leichter gewesen war. In der es wirklich manchmal half, wenn man sich etwas wünschte.
Als sie weiterblätterte, Dornröschen, Aschenputtel und das Rumpelstilzchen hinter sich ließ, stieß sie plötzlich auf einen vergilbten Brief, den Frau Hallmann wohl zwischen den Seiten vergessen hatte. Das Papier des Umschlages wirkte sehr grob, Stock- und Wasserflecken bedeckten ihn vollständig. Weder fand sich ein Absender noch ein Empfänger darauf. Wahrscheinlich war der Umschlag benutzt worden, um etwas aufzubewahren. Oder war der Brief, der darin steckte, nie abgeschickt worden?
Einen Moment lang kämpfte Anna mit ihrer Neugierde, dann entschied sie sich, den Brief vorsichtig aus dem Buch zu nehmen und ihn zu lesen.
Der Umschlag machte den Eindruck, unter ihrer Berührung zu zerfallen. Doch glücklicherweise tat er das nicht. Anna zog ihn hervor und öffnete ihn. Ein Zettel steckte darin. Auch er war über und über mit Flecken bedeckt. Die Stellen, an denen er gefaltet worden war, wirkten äußerst brüchig. Wie oft mochte er wohl gelesen worden sein? Äußerst vorsichtig klappte Anna ihn auseinander. Die Handschrift wirkte auf den ersten Blick sehr konfus, außerdem handelte es sich um Sütterlin. Die Tinte war an den Rändern ein wenig verlaufen. Vielleicht mochte sie früher einmal blau gewesen sein, doch alles, was von ihr geblieben war, war ein verblichener Braunton. Anna brauchte eine Weile, um die Schrift zu entziffern, doch dann las sie:
Meine geliebte Gertrud,
nun bin ich schon seit drei Monaten an der Front und habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Die Kämpfe sind sehr schwer, und ich fürchte mich davor, Dich nie wiederzusehen. Gerade jetzt, an Weihnachten, herrscht unter den Kameraden eine gedrückte Stimmung. Jeder von uns wäre so gern bei seinen Liebsten – und ich wäre am liebsten bei Dir. Ich habe keine Ahnung, wann Dich mein Brief erreicht, vielleicht ist dann schon Frühling und das Weihnachtsfest längst vergessen. Aber ich möchte Dir mitteilen, dass ich in jeder Minute an Dich denke, auch dann, wenn die Geschütze krachen und wir jeden Augenblick damit rechnen müssen zu sterben. Erinnerst Du Dich, was wir uns am vorigen Weihnachten versprochen haben? Ich denke sehr gern an diese Tage zurück, und die Erinnerung an das Fest ist der Anker, an dem ich mich festhalte in all dem Chaos und dem Leid. So manches Mal denke ich darüber nach, einfach abzuhauen, mich zu Dir durchzuschlagen, doch die Gefahr ist einfach zu groß. Also versuche ich, durchzuhalten und vor allem zu überleben. Wenn ich mir ein Geschenk vom Christkind wünsche, dann dieses. Nein, es gibt da noch eines, nämlich, dass mir Deine Liebe in der Ferne erhalten bleibt. Denn wenn es etwas gibt, das ich noch mehr fürchte als den Tod, dann dass Du mich nicht mehr lieben könntest.
Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr wünsche ich Dir, mein Liebes. Ein Jahr, in dem der Krieg hoffentlich zu Ende geht und wir einander wieder in den Armen halten können.
In Liebe,
Dein Kurt
Zutiefst berührt ließ Anna den Brief sinken.
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