Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
Wer war der junge Mann, der den Brief verfasst hatte?
Dass mit Gertrud Frau Hallmann gemeint war, stand außer Frage, doch wer war er? Ihr Ehemann? Aber der hatte doch Werner geheißen … Leider stand nicht dabei, wo der Soldat stationiert gewesen war. Wahrscheinlich hatte Frau Hallmann den Briefumschlag gewechselt, nachdem sie den Brief erhalten hatte. Vielleicht hatte sie ihn damals auch voller Ungeduld zerrissen, weil sie unbedingt wissen wollte, wie es Kurt ergangen war.
Was war ihm passiert? War er vielleicht ihre Jugendliebe gewesen? Oder ihr Bruder? Immerhin hatte Anna ein Datum. Den 10 . Dezember 1944 . Wo mochte Kurt zu diesem Zeitpunkt gewesen sein? Und hatte er den Krieg überlebt? Warum hatte Frau Hallmann diesen Brief aufgehoben?
Anna faltete den Zettel wieder vorsichtig zusammen. Würde sie den Mut haben, Frau Hallmann darauf anzusprechen? Möglicherweise hatte sie den Brief in das Märchenbuch getan, um ihn zu verstecken. Und wenn sie sie darauf ansprach, würde sie ja zugeben, ihn gelesen zu haben. Durfte man das so einfach, einen fremden Brief lesen? Auch wenn er in einem Geschenk für sie steckte?
Noch eine andere Möglichkeit kam ihr in den Sinn. Vielleicht hatte Frau Hallmann den Brief absichtlich zwischen die Seiten gesteckt, um Anna zu zeigen, dass das Weihnachtsfest auch ganz anders aussehen konnte. Um ihr zu zeigen, dass Menschen, die viel größere Probleme als sie gehabt hatten, sich trotzdem auf Weihnachten freuen konnten …
Sie versuchte, sich vorzustellen, wie das Weihnachtsfest für diesen Soldaten ausgesehen hatte. Hatte es in den Schützengräben des Zweiten Weltkriegs so was wie eine Weihnachtsfeier gegeben? Hatten die Waffen wenigstens am Heiligen Abend geschwiegen?
In einem Film über den Ersten Weltkrieg hatte sie gesehen, dass sich die Soldaten am Heiligen Abend zusammengefunden hatten, deutsche und englische Soldaten, die gemeinsam Weihnachtslieder gesungen und vergessen hatten, dass sie eigentlich Feinde waren. Feinde in einem unsinnigen Krieg. Hatte es so was wirklich gegeben? Erst recht im Zweiten Weltkrieg? Oder entsprang das nur der Phantasie eines Autors? Schlimmstenfalls hatte der Absender dieser Zeilen in einem Schlammloch vor sich hin gefroren, die Gedanken verzweifelt auf sein Zuhause gerichtet, wo seine Freundin wartete. Es war heutzutage kaum vorstellbar, dass es jene Zeiten gegeben hatte. Doch der Brief war ein untrüglicher Beweis …
»Du meine Güte!«
Der Ausruf riss sie aus der Vorstellung des frierenden Soldaten. Als sie aufblickte, entdeckte sie drei ältere Damen, die ein wenig ratlos vor dem Fenster der Raststätte standen und nach etwas Ausschau zu halten schienen.
»Was machen wir denn jetzt?«
»Wo sind sie hin?«
Das Trio reckte die Hälse, doch offenbar fanden die Damen nicht, was sie suchten. Dafür breitete sich bei ihnen spürbar Ratlosigkeit aus. Sie flüsterten etwas miteinander, das Anna nicht verstand, dann liefen sie vor der Scheibe hin und her. Was war passiert?
Da sich sonst niemand um sie kümmerte, beschloss Anna, sie anzusprechen. Sie steckte den Brief wieder zwischen die Seiten des Märchenbuchs und verstaute dieses in ihrem Trolley. Dann trat sie zu den Frauen.
»Entschuldigen Sie, wenn ich mich einmische, aber … ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
Auf den ersten Blick erinnerten sie Anna ein wenig an drei Feen aus dem Märchen, auch wenn sie keine wallenden Gewänder oder Hexenkleider trugen.
Die vom Wuchs her größte Frau hatte ihrem silberfarbenen Haar einen leichten Lilastich verliehen, wahrscheinlich, um interessanter zu wirken – oder um zu ihrer Kleidung zu passen, denn diese war in verschiedenen, aufeinander abgestimmten Lilatönen gehalten. Die zweite, deren Haar schneeweiß war, trug ein pinkfarbenes Brillengestell, dessen Gläser ihre Augen mindestens dreimal so groß wie normal erscheinen ließen. Ihre Kleidung war ziemlich bunt, große rosafarbene Blumen blühten auf ihrem knielangen Rock, ihre Beine steckten in Stützstrümpfen, wie Anna sie auch von Frau Hallmann kannte. Die dritte trug eine zitronengelbe Strickjacke, die sie ein wenig kränklich aussehen ließ, aber doch zu ihrem dunkel gefärbten Haar, der weißen Bluse und den braunen Schlupfhosen passte.
Flieder, Rose und Butterblume. Diese Bezeichnungen passten hervorragend zu ihnen.
Auf ihre Frage hielten die drei Frauen mit ihrem Marsch inne. Verwundert blickten sie sie an, als wüssten sie zunächst nichts mit ihr anzufangen.
»Ach,
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