Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
nicht geschlossen sein. Vielleicht stand dort wieder ein ignoranter Verkäufer hinter dem Tresen, aber dann würde sie sich kurzerhand einen Schokoriegel holen, das Geld auf den Tisch legen und sich dann in eine Ecke verziehen.
Ihre Gedanken wanderten zu Paula. Sie beneidete ihre Freundin zutiefst. Sie lauschte jetzt wahrscheinlich den Geschichten ihres Großvaters und aß gut … Nein, jetzt garantiert nicht, korrigierte sich Anna. Jetzt wird sie schlafen und glauben, dass ich gut bei meiner Familie angekommen bin. Und morgen wird sie feiern, und ich werde an diesem gottverdammten Ort gefangen sein – wenn nicht noch irgendein Wunder geschieht.
Ein markerschütterndes Hupen hinter ihr riss sie aus ihren Gedanken. Erschrocken sprang Anna zur Seite, stolperte und fiel mit dem Gesicht voran in den Schnee. Etwas brummte bedrohlich an ihr vorbei. Offenbar hatte der Lastwagenfahrer sie nicht bemerkt. Wie auch, sie hatte ja keine Reflektoren an ihrem Hintern.
Hustend und spuckend wälzte sich Anna aus dem Schnee. Mein Koffer!, durchfuhr es sie siedend heiß. Bei ihrem Glück klebte er sicher am Kühlergrill des LKW .
Doch als sie ihre Orientierung wiedergefunden und sich aus dem Schneeberg herausgekämpft hatte, sah sie, dass er immer noch dastand. Treu und fest auf zwei Rollen und einem kleinen Standbein.
Das Schicksal hatte vor, sie zu ärgern, o ja, aber ganz die Hoffnung nehmen wollte es ihr offenbar nicht.
Nachdem sie sich wieder gesammelt hatte, schnappte sie sich den Trolley und lief dann so weit rechts wie nur möglich zum Parkplatz. Der Lastwagen, der sie vorhin beinahe überfahren hatte, parkte bereits, sein Fahrer stieg aus, kratzte sich Kopf und Bauch und gähnte herzhaft.
Anna verspürte auf einmal große Lust, ihm die Meinung zu geigen, doch ihr knurrender Magen erinnerte sie daran, dass es im Leben Wichtigeres gab, als sich mit irgendwelchen Truckern zu zanken. Außerdem brauchte sie Energie – für den Fall, dass sich keine Mitfahrgelegenheit bot und sie den Weg nach Berlin zu Fuß zurücklegen musste.
Erschauernd bei diesem Gedanken trat sie schließlich durch die Tür. Die Raststätte war für diese Uhrzeit noch ziemlich belebt. Die Frauen hinter den Verkaufstresen wirkten ein wenig müde, eine von ihnen schob gerade eine neue Ladung Brötchen oder Kuchen in einen Ofen, dessen Wärme sofort im ganzen Raum spürbar war.
Anna wählte eine Eckbank in Fensternähe und schob dort ihren völlig verdreckten und durchnässten Trolley unter den Tisch. Ihre Jacke sah nicht viel besser aus. Natürlich hatte sie nicht erwartet, nach dem Marsch durch Eis- und Dreckregen porentief rein zu sein, doch die dicken Schmutzschlieren entsetzten sie. Wenn ihre Sachen so aussahen, wie stand es dann um ihr Gesicht? Sah sie vielleicht aus wie ein Grubenarbeiter nach der Schicht? Nachdem sie die Jacke abgelegt hatte, ließ sie sich auf dem etwas brüchigen roten Kunstleder nieder, das schon viele Hintern und sicher auch Kinderfüße hatte aushalten müssen. Dann zückte sie einen Taschenspiegel und betrachtete sich. Der Anblick war sogar noch schlimmer, als sie erwartet hatte. Dreck klebte in ihren Haaren, Schmutz an ihren Wangen. Die Spuren der Tränen zogen sich über ihr Gesicht wie Flüsse über eine Landkarte. Dazu kamen ihre Augen, die gerötet waren und jeglichen Glanz verloren hatten. Nicht zu vergessen die bläulichen Schatten darunter, die von den vergangenen Anstrengungen und einer Nacht, die schon jetzt viel zu lang war, kündeten. Das zombiehafte Bild wurde vervollständigt von rissigen Lippen, die blutleer wirkten und unter dem Schmutz kaum zu erkennen waren.
Als Anna bewusst die Zähne aufeinandersetzte, bemerkte sie, dass kleine Steinchen zwischen ihnen knirschten.
Einen Moment lang betrachtete sie sich fassungslos, dann versuchte sie, mit Spucke und einer Serviette, die sie vom Halter in der Tischmitte nahm, das Schlimmste zu beseitigen. Unter dem rauen Zellstoff kamen ihre Wangen wieder zum Vorschein, und durch das Reiben bekamen sie sogar wieder etwas Farbe. Die Lippen blieben allerdings rissig, und keine Serviette der Welt hätte den Glanz zurück in ihre Augen zaubern können. Auch für ihre Haare konnte sie nichts tun, doch wenigstens fühlte sie sich ein bisschen sauberer.
Sie ließ sich gegen das Polster sinken und blickte nach draußen. Viel zu sehen war da nicht, nur die gelben Parkplatzlampen, in deren Schein die Schneeflocken tanzten und die deutlich anzeigten, dass die Schneedecke erneut
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