Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
Spiegel. Ja, sie sah jetzt wieder recht passabel aus. Dann verließ sie die Toilette.
Auch wenn sie jetzt keinen Kaffeebecher mehr in der Hand hielt, beschloss Anna, sich auf einer der Wartebänke niederzulassen, um nicht noch einen Rempler zu kassieren. Sie hörte ein Baby schreien und sah die hektischen Gesichtsausdrücke der Menschen, die an ihr vorbeihasteten und keinen Blick für sie übrig hatten. Schöne Weihnachtszeit, dachte sie zunächst, doch dann stellte sie sich vor, wie sich die Gesichter dieser Leute veränderten, wenn sie erst einmal durch ihre Wohnungstür getreten waren, den vielleicht schon geschmückten Weihnachtsbaum vor sich. Wahrscheinlich waren sie nur hektisch, weil sie immer noch unterwegs waren. Wenn der Weg geschafft war, würden sie lächeln und sich vielleicht auf die kommenden Stunden freuen. Wie war das mit ihr? Mal abgesehen davon, dass sie noch keinen rechten Grund zur Freude hatte, weil Berlin immer noch meilenweit entfernt war. Freute sie sich?
Ja, sie freute sich – darauf, dass die Reise ein Ende hatte, darauf, Jonathan zu sehen …
»Entschuldigen Sie!«, rief da eine Stimme, die sie kannte. Es war die Frau vom »Snack Point«. Anna wirbelte herum. Was kam jetzt? Wollte ihr das Schicksal nicht ein bisschen Pause zum Verschnaufen lassen?
»Ja?«, fragte Anna ein wenig unsicher. Sie sah doch jetzt nicht mehr schmutzig aus, und nirgendwo gab es ein Hausverbot für mitgenommen aussehende Reisende. Warum ließ das Schicksal sie nicht endlich in Ruhe?
»Sie haben doch vorhin mit Karte bezahlt, und da habe ich Ihren Namen gesehen.«
»Ist mit der Karte etwas nicht in Ordnung?« Erschrocken fragte sich Anna erneut, ob sie noch genug Geld auf dem Konto hatte.
»Doch, mit der ist alles in Ordnung, aber der Name … Sie sind Anna Wagner und haben vorhin ein Ticket nach Berlin gelöst. …« Auf die Wangen der Frau traten jetzt zwei rote Flecke. »Gerade kam ein Reiseruf durch das Radio, ich dachte mir, dass Sie das vielleicht sind. Hätte sein können, dass Sie schon weg sind, aber jetzt habe ich Sie gesehen, und da dachte ich mir, ich spreche Sie an.«
Anna stand einen Moment lang wie angewurzelt da.
»Ja, das bin ich, ich meine, der Ruf ist für mich, ich hatte ihn schon vorher gehört«, entgegnete sie überrascht.
»Oh«, machte die Frau ein wenig verlegen, dann reichte sie ihr einen Zettel. »Hier, ich habe die Nummer aufgeschrieben. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes passiert.«
»Danke.« Anna nahm das kleine Stück Papier, das sich als Ecke einer Serviette entpuppte.
»Keine Ursache«, entgegnete die Frau und wollte sich schon umdrehen, da rief Anna ihr hinterher: »Entschuldigen Sie, könnte ich von Ihnen aus wohl bitte mal anrufen?«
Die Frau lächelte. »Aber sicher doch, kommen Sie!«
Die Telefonnummer gehörte zu einer Polizeidienststelle in Berlin – der zuständigen für den Bezirk, in dem ihre Mutter lebte. Anna vernahm mit pochendem Herzen die Meldung des zuständigen Beamten, dann sagte sie: »Hallo, mein Name ist Anna Wagner, ich melde mich wegen des Reiserufs.«
In diesem Augenblick geisterten alle möglichen Schreckensszenarien durch ihren Schädel. Hatte es vielleicht einen Unfall gegeben? War die Wohnung ausgebrannt?
»Na Gott sei Dank!«, rief der Mann am anderen Ende erleichtert aus, als hätte er persönlich auf ihre Nachricht gewartet.
»Was ist denn passiert? Geht es meinen Eltern gut? Und meinem Bruder?« Anna feuerte die Fragen ohne Pause auf den Mann ab.
»Die Frage ist eher, wie geht es Ihnen und wo stecken Sie?«, fragte der Mann zurück. »Wir haben heute Morgen eine Vermisstenanzeige bekommen von einem Gerd Dressler. Er meinte, Sie wären auf dem Weg nach Berlin gewesen, sind aber nicht wie vereinbart angekommen.«
Die Suchanzeige hatte ihr Stiefvater aufgegeben? Das hätte sie nicht erwartet.
»Ich bin im Zug nach Berlin eingeschlafen und aus Versehen nach Binz gefahren.« Wie oft hatte sie diese Geschichte jetzt schon erzählt? Allmählich verlor sie die Übersicht. Aber was das Wichtigste war: Offenbar war sie der Grund für den Reiseruf und nicht irgendein Unglück, das sich ereignet hatte.
»Und warum haben Sie sich dann nicht bei Ihrer Familie gemeldet? Ihre Eltern machen sich doch Sorgen!«
Anna erklärte aufgeregt, was ihr widerfahren war. »Können Sie mir bitte die Nummer geben? Dann rufe ich auch sofort an.«
»Aber dass Sie auch wirklich gleich anrufen, ja? Immerhin ist heute Weihnachten, da sollte man seine Familie
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