Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
Sollte der Last-Christmas-Fluch sie diesmal doch nicht erwischen?
Offenbar nicht, denn wenig später verließ sie mit dem Ticket in der Tasche, einer Brötchentüte und einem Becher Kaffee den Laden.
Inzwischen war ein Zug aus Berlin angekommen und entließ seine Fahrgäste auf den Bahnsteig. Anna stellte sich vor die Anzeigetafel und beobachtete, wie der eingefahrene Zug nach oben rutschte und ein neuer angezeigt wurde. Dazwischen stand ihr Regio, der Zug, der sie fortbringen würde von all dem Weihnachtschaos.
Hinter ihr wurde es nun laut. Die Passagiere strömten um sie herum zur Tür – bis ein harter Stoß gegen ihre Schulter ihr den Kaffeebecher aus ihrer Hand gleiten ließ.
Platsch! Der Kaffee schwappte über die Fliesen, traf ihre Hosenbeine und ihren Koffer und spritzte zu ihrer Jacke hoch. Ein paar Spritzer trafen sogar ihr Kinn!
Wütend blickte sich Anna um. Der Mann in dem grauen Mantel, der es offenbar so eilig gehabt hatte, dass er nicht mal nach links oder rechts schauen konnte, war da bereits zur Tür hinaus.
»Blödmann«, brummte Anna, während sie ein wenig hilflos auf den Boden schaute.
Als sie an sich hinuntersah, erkannte sie, dass sie so unmöglich in den Zug steigen konnte. Zumindest ihre Jacke und ihren Koffer, von dem der Milchkaffee ebenfalls abperlte, wollte sie ein wenig saubermachen. Ihr Blick fiel auf die Bahnhofsuhr. Fünfzehn Minuten hatte sie noch. Das würde reichen. Ohne weiter zu überlegen, stürmte sie zur Toilette. Glücklicherweise gab es bei so wenig Andrang von Fahrgästen auch keine Schlangen vor Kabinen und Waschbecken.
Als sie sich selbst im Spiegel sah, erschrak sie. Dieses zerzauste Wesen sollte sie sein? Ihre Haare hingen strähnig und verfilzt herunter, ihre Kleider standen vor Dreck und unter ihren Augen blühten trotz Schlaf zwei dunkelblaue Ränder. Erst jetzt, in der Nähe der Toiletten, bemerkte sie, dass sie eigentlich musste, und so verschwand sie erst einmal in der Kabine. Ans Waschbecken zurückgekehrt riss sie schnell ein paar Papierhandtücher aus dem Spender, und drehte den Wasserhahn auf. Doch anstelle eines milden Strahls stürzte ihr plötzlich ein breiter Wasserschwall entgegen.
Erschrocken schrie Anna auf und sprang zurück. Im ersten Moment konnte sie nicht einmal erkennen, warum das Wasser auf sie zugeschossen kam. Als sie zur Seite auswich und sich das Wasser aus dem Gesicht gewischt hatte, erkannte sie, dass der Wasserhahn an einer Seite aufgeplatzt war – urplötzlich, als hätte dieser Schaden genau auf ihre Ankunft gewartet.
Warum ich?, fragte sie sich, während sie das Wasser aus ihren Haaren wrang. Doch dann hatte ihr Verstand auch gleich die Antwort parat. Weil du ein Grinch bist. Und weil dich Weihnachten anscheinend noch viel mehr hasst, als du Weihnachten.
Bevor sie sich weiter in Selbstmitleid und Ärger ergehen konnte, vernahm sie ein dumpfes Grollen und eine Durchsage. Letztere konnte sie nur teilweise verstehen, doch sie fuhr erschrocken zusammen, als sie das Wort Berlin hörte. Das konnte nicht sein. Es waren doch bestenfalls fünf Minuten vergangen, seit sie die Toilette betreten hatte! Sofort wirbelte sie herum, ließ das Wasser laufen, griff nach dem Trolley und lief los.
Dummerweise befand sich Gleis drei jenseits einer Unterführung, zu der man von Gleis eins aus erst mal hinrennen musste. »Bitte, bitte, bitte«, flehte sie, während sie den Trolley hinter sich herzerrte.
Noch bevor sie die Unterführung erreicht hatte, ertönte ein schriller Pfiff, und die rote Zugschlange setzte sich in Bewegung.
Anna lief trotzdem noch ein Stück weiter, hörte das Donnern des Zuges und sah schließlich ein, dass sie Superheldenkräfte brauchen würde, um ihn doch noch zu erwischen. Keuchend blieb sie stehen, stampfte wütend mit dem Fuß auf und entdeckte den Schaffner, der gerade seine Pfeife in der Brusttasche seiner Jacke verschwinden ließ.
Wütend stapfte sie auf ihn zu. »Warum ist dieser Zug jetzt schon gefahren?«, fuhr Anna ihn an. »Es waren doch noch zehn Minuten!«
»Ich verstehe nicht …«, gab der Mann verdattert zurück.
»Na, auf der Bahnhofsuhr waren es doch noch mindestens zehn Minuten! So lange habe ich doch in der Toilette nicht gebraucht!«
»Ähm, na ja, Sie meinen bestimmt die Uhr im Bahnhofsgebäude …«, stammelte der Schaffner und wurde rot. »Ich glaube, die geht falsch.« Er deutete über seine Schulter zu der Uhr, die über dem Bahnsteig baumelte.
Anna stellte fest, dass er recht hatte.
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