Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
zurückprallte.
»Markus!«, fauchte ihre Mutter ihn an. Als wäre das ein Zauberwort gewesen, verwandelte sich ihr Vater nun wieder zurück. Seine Züge entspannten sich. Und doch hatte Anna das Gefühl, dass irgendwas anders war.
»Was gibt es denn, Anna?«, fragte ihre Mutter. Sie streichelte über ihr Haar, doch Anna sah nicht sie an, sondern den Vater. Noch immer konnte sie nicht glauben, was sie gesehen hatte. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ich wollte nur nachsehen, was los ist«, antwortete sie.
»Mama und Papa haben sich nur ein bisschen gestritten«, antwortete die Mutter. »Es ist nicht schlimm.«
»Vertragt ihr euch wieder?«
»Natürlich machen wir das.«
Ihre Mutter gab ihr einen Kuss, nahm sie bei der Hand und führte sie nach draußen. Die große Anna in der kleinen wusste, dass sie sich nicht vertragen würden. Dieser Streit am Heiligen Abend sollte alles für immer verändern …
Als sie an der Raststätte Linumer Bruch vorbeirauschten, schreckte Anna aus ihrem Traum auf. Für einen Moment wähnte sie sich wieder in dem Zug, doch dann stieg ihr ein süßlicher Geruch in die Nase. Irgendwas musste Micha vorn gesagt haben, aber sie hatte es nicht mitbekommen. Während sie sich aufsetzte, blickte sie sich um.
Clarissa lehnte nun an Jonas, die Schlafmütze mit dem Schlumpftrauma war immer noch nicht erwacht, und Micha lenkte schweigend den VW -Bus auf die Abbiegespur.
»Ist schon komisch«, sagte sie, ohne zu wissen, ob ihr jemand zuhörte. Sie war nicht sicher, ob irgendwer hören wollte, welche Erkenntnis ihr gekommen war, aber in diesem Augenblick hatte sie das Bedürfnis, es rauszulassen. Wahrscheinlich begann der Jointqualm auch bei ihr zu wirken. Es gab keine Peinlichkeit mehr, ihre inneren Barrieren verschwanden plötzlich. »Ich kann meinen Stiefvater nicht leiden, ja, ich hasse ihn regelrecht, aber ich weiß nicht einmal, warum. Sicher, er ist ganz anders als mein richtiger Vater, aber eigentlich ist er kein schlechter Mensch. Er hat immer versucht, das Richtige zu tun, er hat für meine Mutter, meinen Bruder und mich gesorgt.
Ich glaube, ich hasse ihn, weil er den Platz meines Vaters eingenommen hat. Oder weil ich eigentlich meinem eigenen Vater nicht verzeihen kann, dass er sich einfach aus dem Staub gemacht hat. Ich habe mich oft gefragt, warum er gegangen ist und ob es vielleicht an mir gelegen hat. Meine Mutter war sehr lange traurig, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass er es sich überlegt und wieder zurückkommt. Und dann kam Gerd. Ich mochte ihn von Anfang an nicht, obwohl er sich wirklich bemüht hat, mit mir auszukommen. Jedes Wort von ihm legte ich auf die Goldwaage, das tue ich auch heute noch. Gut, wahrscheinlich wird er nie verstehen, warum ich gerade Geschichten schreiben möchte, aber im Grunde genommen macht er sich nur Sorgen darum, wie ich mal mein Geld verdiene. Dass er sich nicht vorstellen kann, das mit Worten zu tun, bedeutet ja noch lange nicht, dass er sich keine Gedanken um mich macht.«
Als sie in die Runde blickte, sah sie, dass ihre potentiellen Zuhörer immer noch pennten. Aber vielleicht war das auch gut so.
»Coole Geschichte«, sagte Micha unvermittelt. »Vielleicht sollte ich dir gestehen, dass ich Psychologie studiere. Was du geschlussfolgert hast, ist richtig. Auch wenn ich die näheren Umstände nicht kenne, ist es wahrscheinlich wirklich so, dass du deinem eigenen Vater nicht verziehen hast, dass er euch verlassen hat, und dieses Gefühl auf deinen Stiefvater projizierst und vielleicht auch noch ganz andere Dinge, die damit zu tun haben.«
Anna hätte nie gedacht, dass sie in diesem Bus auch noch eine kostenlose Seelenklempnerberatung bekommen würde. Aber es tat gut, dass der Bursche sie verstand. Sie schnallte sich ab und kletterte auf einen freien Sitz weiter vorn. Nur der Fahrer mit den Rastalocken und sie waren noch wach, während draußen die frühe Abenddämmerung einsetzte.
»Du meinst, davon könnte auch meine Abneigung gegenüber Weihnachten kommen?«
»Du magst Weihnachten nicht?«, fragte der Fahrer, und an der Bewegung seiner Ohren konnte sie erkennen, dass er grinste. »Hey, jeder mag Weihnachten!«
»Ja, das wünscht man sich, und dann sieht man die Leute umherhetzen und schimpfen und fragt sich, wo der Friede bleibt. Vielleicht solltet ihr euer Zeug unter die Leute bringen, das macht sie ein wenig entspannter.«
»Dazu müsste Hasch erst mal legalisiert werden. Aber nee, das ist es dann auch nicht. Ich
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