Eine zweite Chance
Männer hängen geblieben waren und sie sich gegen unwillkommene Verehrer wehren musste. Wenn sie sie mit diesem besonderen Blick angesehen hatte, dem absichtsvollen, hatte sie gewusst, dass er immer beantwortet wurde. Das Leben hatte mehr Spaß gemacht, als sie das Gefühl hatte, selbst wählen zu können. Ohne Vorwarnung war diese Möglichkeit verschwunden. Blicke, die sie früher einfangen konnte, glitten plötzlich vorbei, sahen direkt durch sie hindurch, als gäbe es sie nicht. Der Verlust war verwirrend. Sie hatte es weiterhin versucht, aber schließlich aufgeben müssen. Einer der wenigen Schauplätze, die sie beherrscht hatte, war nicht mehr der ihre. Sie war unsichtbar geworden.
Die Männer waren in ihrem Leben gekommen und gegangen, wurden aber weniger und weniger. Deshalb ging sie manchmal tanzen, auch wenn es nicht mehr so war wie früher. Eine neue Generation hatte die Tanzfläche übernommen. Eigentlich würde sie sich mit so wenig zufriedengeben. Ihre Sehnsucht galt diesen Blicken, die sie einst zu etwas Besonderem erkoren hatten. Sie wollte, dass jemand sie umarmte, wenn er auch nur für kurze Zeit ihren Körper berühren wollte, den keiner mehr begehrte. Mittlerweile war es auch in Ordnung, wenn er betrunken war, mitten im Gedränge auf einer Tanzfläche.
Sie fühlte das Verlangen nach einer Zigarette. Die Kinder hatten sie gedrängt aufzuhören, und natürlich sollte sie das tun. Mittlerweile beschränkte sie sich täglich auf drei. An dem Tag, an dem die Kinder sagen würden, ein Enkel sei unterwegs, würde sie ganz aufhören.
Gerade als sie das Schlafzimmerfenster öffnen wollte, entdeckte sie das silberfarbene Auto, das vor dem Hotel parkte. Das sie draußen auf der Landstraße vorbeifahren und nach Kullmyran einbiegen gesehen hatte.
Alle in der Gegend wussten, dass der Kiesweg in dieser Jahreszeit unbefahrbar war, und tatsächlich – als sie dorthin gegangen war, hatte er oben auf Stenlägda geparkt. Ein Mietwagen aus Sundsvall, wie sie erfahren hatte, als sie angerufen und die Zulassungsnummer kontrolliert hatte. Sie pflegte das bei verdächtigen Autos zu tun, sie hatte in der Zeitung von ausländischen Banden gelesen, die durch Schweden zogen und Einbrüche begingen.
Dieses Auto war aber, wie sie ahnte, aus einem anderen Grund unterwegs. Sie legte die Zigarette weg und griff zum Telefon.
»Lindgrens Hotel und Pension.«
»Ich bin es nur, wem gehört das Auto, das auf dem Hof steht?«
»Du meinst den Saab? Nur einem Hotelgast, er ist vor ein paar Stunden angekommen.«
»Weißt du, wie er heißt?«
»Keine Ahnung, er ist plötzlich aufgetaucht, ohne vorher reserviert zu haben. Warum fragst du?«
»Dieses Auto hat vor kurzem noch oben auf Stenlägda geparkt. Ich könnte wetten, dass er bei Verner war.«
»Nun, das kann sein. Weißt du, was er dort zu suchen hatte, da fahren doch nicht so viele hin?«
»O ja, ich habe so meine Ahnungen.« Anna-Karin dehnte die Antwort aus, um Helenas Neugier auf die Folter zu spannen. »Das Kullmyrstorp gehört ja zum Hof, das ist unser staatliches Lehen. Helga ließ ihn da oben wohnen.«
»Ja, das weiß ich schon.«
»Aber das galt nur, solange sie den Hof besaß, jetzt können wir ihn endlich loswerden.«
Helena sagte nichts, und ihr Schweigen irritierte Anna-Karin. Das passierte manchmal, wenn die Unterschiede zwischen ihnen allzu offensichtlich wurden. Wie so oft, wenn sie Zustimmung suchte, bekam sie keine Unterstützung. Es gab vieles an Helena, was sie mochte, aber auch einiges, was sie störte. Das meiste war in der Kindheit einfacher gewesen, obwohl es schon damals Unterschiede gegeben hatte. Helena war das exotische Ferienkind gewesen, das gleich nach dem Schulschluss auftauchte und von dem alle wussten, dass es in ein fernes Stockholm zurückkehren würde, wenn der Sommer zu Ende war. Mit einem Dialekt, den sie aus dem Fernsehen kannte, phantasierte Anna-Karin über ihren spannenden Alltag in der Großstadt – all die bekannten Menschen, denen sie auf der Straße begegnen konnte, die Kleidergeschäfte mit der aktuellsten Mode. Alles, was für Anna-Karin unerreichbar war, hatte Helena in selbstverständlicher Reichweite. Erst als Teenager hatte sie begriffen, dass Helenas Alltag vielleicht doch nicht so begehrenswert war, da die Gemeinde sie von dort wegholte, wenn die Sommerferien kamen. Aber Helena hatte mit keinem Wort erwähnt, warum, weder damals noch jetzt als Erwachsene.
»Was willst du denn mit dem Häuschen anfangen? Ist es
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