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Eine zweite Chance

Eine zweite Chance

Titel: Eine zweite Chance Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Alvtegen
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ein Pädagoge erklärt, dass sogar Völkermord seinen Ursprung in dem Wunsch hatte, sich in »wir« und »die« aufzuteilen.
    »Es beginnt mit einem harmlosen Scherz, so wie die von Anna-Karin, und das gibt den Vorurteilen Nahrung. Je mehr Leute lachen, umso stärker wird das Wir-Gefühl, und dann, wenn die Scherze zu Ansichten gewachsen sind, beginnt man Abstand von denen zu nehmen, die man lächerlich gemacht hat. Man selbst darf dazugehören. Diejenigen, die anders sind, werden außen vor gelassen. So wird das Fundament für jede Form der Diskriminierung und Verfolgung gelegt. Man darf nicht vergessen, dass Deutschland eine Demokratie war, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, es war das Volk selbst, das für sie stimmte. Die Tendenz zu dem, was sie wollten, gab es schon früher, aber erst als sie zur Macht kamen, zeigten sie ihr wahres Gesicht. Es ist so, Helena, wenn man glaubt, im Besitz der Wahrheit zu sein, wird man böse. Dann stellt man nichts mehr in Frage, sondern beginnt stattdessen, seine Wahrheit zu verteidigen.«
    Helena hatte natürlich nie gesagt, wie satt sie mit den Jahren seine Erklärungen bekommen hatte. Lange Vorträge, bei denen er ungebeten alles referierte, was er wusste. Ein emsiger Besserwisser, der sich dazu herabließ, anderen die Zusammenhänge zu erklären.
    Das war eine seiner Seiten, die sie am meisten irritiert hatte.
    Jetzt musste sie ihm Recht geben, was Anna-Karin betraf.
    Sie hatte dem, was er zu sehen behauptete, nicht zustimmen wollen – Anna-Karins Position als selbsternannte Fahnenträgerin für die Kleinkariertheit des Dorfes. Bei jedem Anzeichen von Veränderung lief sie von Hof zu Hof, um die Ortsbewohner zum Widerstand aufzuhetzen. Ob es nun galt, eine Straße zu verbreitern oder Änderungen im Busfahrplan vorzunehmen, eine Behindertenrampe in der Kirche anzubringen oder ein Flüchtlingslager zu errichten. Leute, die keinen Grund hatten, Stellung zu beziehen, erschraken über ihre erbosten Argumente, und um einen möglichen Streit und die Rolle als Außenseiter zu vermeiden, unterschrieben viele von ihnen ihre Namenslisten. So entstand ein Zusammengehörigkeitsgefühl, bei dem allem, was neu und unbekannt war, Grenzen aufgezeigt wurden.
    Und am meisten regte sich Anna-Karin auf.
    Als Martin einmal wirklich verärgert war, hatte er erklärt, dass er, wenn er noch einen einzigen Schwulenwitz hören würde, sich ihr in einem offenen Konflikt gegenüberstellen würde. Helena war es immer wichtig, zu vermitteln und dass alle in ihrer teuer erkauften Provinzidylle zusammenhielten.
    »Die Ängstlichen schreien am lautesten, um ihre eigene Angst zu verbergen. Gelingt es einem, sie zu verbreiten, bekommt man die Gemeinschaft, die man so sehr braucht, um sich nicht einsam fühlen zu müssen«, hatte Martin bereitwillig erklärt.
    Und vielleicht war das der Grund, warum Helena sich entschlossen hatte, die Augen zu verschließen. Das Bild ihrer Anna-Karin, der Bewunderten, der sie gern gleichen wollte, war immer noch das, was sie sah. Nicht das der Frau, die heute hinter der Rezeption stand, hochrot im Gesicht, während sie auf holprigem Englisch nach Worten suchte. Um hinterher rasch über den ausländischen Gast zu lästern, der sie gezwungen hatte, ihre Unterlegenheit zu enthüllen.
    In solchen Momenten kam Helena der Gedanke, Anna-Karin habe Angst, sich selbst zu verlieren, wenn sie eine Überzeugung aufgeben müsste. Denn das Sonderbare war, dass Anna-Karin sich oft über Eigenschaften ärgerte, die sie selbst besaß, als würde sich ihr Unterbewusstsein gegen das Erkennen ihrer eigenen Schwächen wehren.
    Mit dem Kopf in den Händen dasitzend, merkte Helena, dass ihr Körper von ihr verlangte, es sich einzugestehen. Ihr Nachsehen mit Anna-Karins Entgleisungen hatte begonnen, an ihrer Gemütsruhe zu nagen. Denn hinter dem Schatten hatte sie bereits die ganze Zeit eine vorwurfsvolle Stimme erahnt.
    Du bist so peinlich feige.
    Es hatte vieler Ablenkungen bedurft, um nicht hinhören zu müssen. Jetzt war sie gezwungen hinzuhören.
    Anna-Karin hatte in hohem Maß zu Martins Unzufriedenheit beigetragen, und ihre eigene einschmeichelnde Gleichgültigkeit hatte er verachtet.
    Sie war nur so entsetzlich müde. Stück für Stück zerfiel alles in ihrem Leben, und Anna-Karins Anwesenheit wirkte wie ein letzter Posten, der dem Zerfall noch standhielt. Sie war da wie ein Schutz, gegenüber an der Straße, und für die anstehende Hochsaison im Sommer war Helena von ihr

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