Eine zweite Chance
eigene Verzweiflung, die sich Gehör verschafft hatte, als sie so unvermutet mit ihrem Vorschlag gekommen war.
Wenn sie ehrlich blieb, hatte Martin ein großes finanzielles Opfer gebracht, als er ihr seinen Anteil an dem Hotel überlassen hatte. Als sie von Stockholm weggezogen waren, hatten sie ihre Vierzimmerwohnung am Rörstrandsvägen verkauft, um den Hof erwerben zu können. Der Überschuss hatte außerdem dafür gereicht, Handwerker anzustellen, die die schöne Glasveranda des Speisesaals und die Grundmauern für den Stall gebaut, elektrische Leitungen gelegt und alle Klempnerarbeiten erledigt hatten. Eine kleinere Summe war noch übrig, und die wollte sie jetzt einsetzen. Papiere für eine Vermögensteilung waren nie unterschrieben worden, aber sein Name war von ihren gemeinsamen Konten gestrichen. Ein paarmal hatte er wegen der Eintragung ins Grundbuch gemailt. Solange er als Besitzer der Hälfte dort stand, musste er auch Grundsteuern zahlen. Auf einem Papier fehlte ihre Unterschrift. Wie alle seine Mails hatte sie auch diese unbeantwortet gelassen. Eine Unterschrift war so endgültig. Das wusste sie, nachdem sie gehorsam ihren Namen unter den Scheidungsantrag gesetzt hatte, den er aus dem Netz geholt und schnell ausgedruckt hatte.
Der Name der Ehefrau. Der Name des Ehemanns. Gemeinsame Kinder.
Sie hatte es getan, während sie noch abgeschnitten war. In einem Versuch, sie zu schonen, hatten ihre Gedanken es verhindert, sie die Bedeutung dieses Textes begreifen zu lassen. Erst als das unansehnliche Papier in einem frankierten Umschlag lag, war ihr klar geworden, woran sie mitgewirkt hatte. Doch da war alles schon erledigt gewesen. Unwiderruflich wie eine Amputation.
Emelie schien tief zu schlafen. Helena blieb in der Stille stehen und genoss den Moment, ihr friedliches Gesicht betrachten zu können. Ihr geliebtes Kind, das jetzt im Begriff war, erwachsen zu werden. In einem halben Jahr schon vierzehn.
Schlafend. So einfach, ihr nah zu sein.
Auf dem Boden lag ihr Handy. Helena hob es auf. Auf dem Display befand sich das Bild von einem Kuvert und der Text » SMS empfangen von: Papa«. Ganz unten befand sich die Frage: »Jetzt lesen?« Ihr Daumen strich über den Ja-Knopf. Die Versuchung war fast unwiderstehlich. Heimlich einen Einblick in die Beziehung zu bekommen, von der sie mittlerweile so wenig wusste. Die zu einem Teil von Emelies Schweigen geworden war. Aber wenn sie die Nachricht las, würde sie in den Eingangskorb geschoben werden, und Emelie würde herausfinden, dass sie bereits gelesen worden war. Ihr war bewusst, dass sie etwas Unverzeihliches tun würde, aber als sie das Handy zurücklegen wollte, bekam der Daumen ein Eigenleben. Die Nachricht erschien, und bevor ein Gedanke gedacht worden war, hatten die Augen gelesen, was dort stand. »Mein geliebtes Kind, sehne mich wie ein Verrückter!!! Hoffentlich hast du einen schönen Tag. Kannst du wie üblich um 8 Uhr heute Abend? Umarmung von Papa.«
Die Worte wirkten wie ein Stoß. Auf der Jagd nach einer vernünftigen Erklärung verbreiteten sich die Gedanken in verschiedene Richtungen. Die Wirklichkeit, wie sie sie kannte, geriet auf einmal in eine Schieflage. Die Worte enthüllten, dass etwas geschah, von dem sie selbst ausgeschlossen war.
Sie fühlte, wie ihre eigene Stellung erschüttert, wie die jetzt schon quälende Kluft zu Emelie abgrundtief wurde.
Geliebtes Kind.
Das, was sie früher zu ihrer Tochter gesagt hatten und was jetzt eine Ewigkeit von dem Vokabular entfernt war, das sie selbst verwenden durfte.
Als sie noch einmal auf das Handy sah, stand dort »Mitteilung gelöscht«, und als hätte sie sich die Finger verbrannt, ließ sie es zu Boden fallen. Sie erhob sich rasch, sah ihre Tochter an und erkannte, dass etwas getrübt worden war. Widerwillig verspürte sie ein Gefühl von Verrat.
»Zeit zum Aufstehen. Es ist gleich Viertel nach sieben.«
Sie ging zum Fenster, und die Jalousie fuhr mit einem Knall nach oben. Als Emelie die Augen öffnete, verließ sie das Zimmer und ging geradewegs hinunter zur Küche. Etwas drehte sich in ihrer Brust. Runde um Runde eines ewigen Rads. Mit den Händen die Kaffeetasse umklammernd, versuchte sie eine Möglichkeit zu finden, wie sie sich nun verhalten konnte. Sie wusste, dass das, was sie fühlte, nicht erlaubt war, dass sie sich brav danebenstellen und alles geschehen lassen sollte. Das, woran sie sich seit einem halben Jahr gewöhnt hatte, nachdem es ihre Aufgabe geworden war, sich dem
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