Eine zweite Chance
vierundzwanzig Stunden, um zu trocknen, bevor die Leute hinein- oder hinausgehen konnten. Die Sitzgruppen aus Rattan hatten im Vorratshaus überwintert, aber im Frühling und im Sommer standen sie auf der Veranda, wo die Gäste oft ihren Kaffee tranken.
Sie öffnete die Tür und trat zur Seite, um Verner den Vortritt zu lassen. Er war auf halbem Weg der Treppe stehen geblieben und schaute zur Straße hin. Helena folgte seinem Blick und landete auf dem Hof der Anderssons. »Wissen Sie, dass Helga Andersson tot ist?«
Verner drehte sich um und nahm die letzten Schritte. »Ja, ich habe es mitbekommen.«
Er streifte die Schuhe auf der Fußmatte ab und folgte Helena zur Rezeption.
»Haben Sie sie gut gekannt?«
»Ne. Das hab ich nicht.«
»Aber sie war es doch, die Sie da oben im Häuschen wohnen ließ?«
»Was für ein tolles Bild. Das ist ja ein Mordskerl von einem Fotografen, der einen Haufen Elchkot so schön erscheinen lassen kann.«
Helenas Gedanken wechselten abrupt die Richtung. Verner war vor einer der Naturfotografien stehen geblieben. Sie war nie dazu gekommen, genau hinzusehen, aber jetzt sah sie tatsächlich, dass es ein Haufen Elchkot war, in schönem Gegenlicht und mit betauten Grashalmen im Vordergrund.
»Na, so was! Ich habe tatsächlich bisher nicht gesehen, was es ist. Du liebe Güte, es ist vielleicht nicht ganz passend, ein solches Bild hier an der Wand zu haben.«
»Warum nicht? Es ist doch schön.«
»Ausgerechnet vor dem Speisesaal.«
»Es ist doch nichts falsch an Elchkot. Man sieht, was man will. Will man Kot sehen, dann sieht man das. Man kann sich auch entscheiden, es als ein Wunder der Natur zu betrachten. Die Welt ist nichts anderes als die Erfindung jedes Einzelnen, sie wird das, was wir aus ihr machen.«
Helena blinzelte zu dem Bild hin und tat ihr Bestes, meinte aber doch nur, einen Haufen Kot zu sehen.
Sie gingen zur Rezeption, und Helena forderte Verner auf, sich an den Computer zu setzen. Nach einer kurzen Anweisung war er im Internet und schien allein zurechtzukommen. Sie ließ ihn in Ruhe und ging hinaus in die Küche. Das Frühstück stand noch da, ein flüchtiger Gedanke ging zum Obergeschoss. Sie hatten nichts über das Frühstück vereinbart, aber andererseits, wenn er einen Monat hier sein sollte, müsste er sich selbst versorgen. Sie würde ihm zeigen, wo sich alles befand, aber ein Hotelservice gehörte nicht zur Anstellung.
Sie gähnte. Der verlorene Schlaf der Nacht und die Erlebnisse der Morgenstunden hatten an ihr gezehrt. Um den Tag zu bewältigen, sollte sie eine Weile schlafen. Sie müsste einen Zettel für Anders schreiben, falls er unterdessen aufwachen sollte.
Sie stand mit der Butterdose in der Hand da, als Schritte auf der Küchentreppe zu hören waren. Ziemlich sicher, wer es war, warf sie durch die Türöffnung einen Blick auf Verner. Viel zu früh stand das Zusammentreffen mit Anna-Karin bevor. Es war so vieles mehr, was sie wissen wollte, ehe sie offen Stellung bezog. So viele Fragen, die sie hatte stellen wollen, um sicher zu sein, dass sie richtig handelte. Doch nun würde ihre Entscheidung schon jetzt offenbar werden. Angesichts dieses Konflikts war ihre Angst wieder da. Ohnmächtig schaute sie zur Tür. Die Klinke wurde heruntergedrückt, und im nächsten Moment schien Anna-Karin die gesamte Diele einzunehmen.
»Es war so, wie ich vermutet habe, ich wusste, es würde Probleme geben. Nicht wahr, das habe ich doch gesagt?«
Helena schwieg. Sie verstand nicht, worauf Anna-Karin hinauswollte.
»Ich habe doch gesagt, dass es Probleme mit dem Erbe geben würde, oder nicht?«
»Doch.«
»Lasse kam heute Morgen herüber und sagte, die Grundstücksgrenze sollte so gezogen werden, dass die Kastanie auf ihrem Grundstück liegt. Und weißt du warum? Lisbeth hat sich in den Kopf gesetzt, im Stall eine Töpferwerkstatt zu bauen, wo sie Kurse geben und irgendeinen verdammten Keramikshop aufmachen will. Hast du schon mal so was Dummes gehört? Und dann muss der Weg hinauf zum Stall über ihr Grundstück führen.« Anna-Karin war an der Tür stehen geblieben, zu empört, um ihre Jacke auszuziehen. Jetzt beugte sie sich hinunter und zog die Stiefel von ihren Füßen. Helena sah vorsichtig zur Rezeption hinüber. Verner saß noch da und schien keine Notiz von ihr zu nehmen.
»Keramikverkauf! Also …« Anna-Karin schüttelte den Kopf, als ob ihr keine Worte mehr einfielen, um ihre Entrüstung auszudrücken. »Sie ist ja nicht ganz bei Trost. Du hast doch
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