Eine zweite Chance
erwarten.«
Viele Jahre später hielt Anders mit seiner Malerrolle inne. In stiller Verwunderung blieb er stehen. Auf einmal wurde ihm klar, warum das Gehirn diese Erinnerung hervorgeholt hatte, der Entschluss der Nacht schien mit einem Mal gar nicht mehr so merkwürdig. In der Tiefe seines Bewusstseins schlummerten letztlich noch alle Erinnerungen. Einige waren sehr intensiv gespeichert worden, andere dagegen hatten sich in Fragmente aufgelöst. Wie die Wahl getroffen wurde, wusste er nicht. Nur dass die Erinnerungen, die ihn geschmerzt hatten, sorgfältig gepflegt worden waren, während anderes mit der Zeit verblasst war. Er hatte seine Wirklichkeit gewählt. Wobei nichts die Enttäuschung darüber mindern sollte, die er gegenüber seinem Vater empfunden hatte, weil dieser nie für ihn da gewesen war.
Jetzt, als er es gebrauchen konnte, hatte sich eine der verworfenen Erinnerungen nach vorne gedrängt.
Albert Einsteins Definition des Wahnsinns.
Er senkte den Kopf und betrachtete seinen Körper in dem Blaumann. Immerhin konnte niemand behaupten, dass er nicht etwas Neues ausprobiert hatte. Und auf diesem Weg, nur auf diesem, war er bereit weiterzugehen.
In diesem Moment schloss er ein Abkommen mit sich selbst.
Während des Gnadenmonats, der vor ihm lag, durfte er nicht Nein sagen, wenn sich eine Gelegenheit bot, etwas Neues auszuprobieren.
Kapitel 15
In dem Haus, das momentan noch zu Helga Anderssons Nachlass gehörte, stand Anna-Karin in der Diele bereit. In Mantel und Stiefeln, die Handschuhe in die Tasche gesteckt. Die Haustür war angelehnt, und durch den Spalt rauchte sie die sechste Zigarette des Tages. Die Ration von zwei Tagen war damit verbraucht. Doch die Empörung wollte immer noch nicht nachlassen. Helenas unerwarteter Ausbruch hatte sie tief verletzt. Was sie von sich gegeben hatte, war so bösartig wie ungerecht, sie konnte nicht begreifen, was sie getan hatte, um diese Beleidigung zu verdienen. Sie hatte gedacht, sie wären Freundinnen. Zwar hatten sie manchmal etwas verschiedene Ansichten, aber Helena hatte nie auch nur einen Ansatz von der Seite gezeigt, die heute ganz unverhüllt zu Tage getreten war. Ihr Blick war nahezu herablassend gewesen. Sie hatte Helena noch nie wütend gesehen, nichts hatte sie provozieren können. Aber gerade heute, als Anna-Karin sie wirklich gebraucht hatte, war sie überraschend explodiert.
Der Anblick von Verner an der Rezeption. Helenas durchtriebene Provokation. Dieser Verrat war eine tiefe Enttäuschung.
Sie hörte, wie die Tür im Nachbarhaus geschlossen wurde. Sie drückte die Zigarette auf der Außentreppe aus, ging hinaus und sperrte die Tür ab. Lasse hatte den Wagen schon gestartet, langsam glitt er auf das Gattertor zu. Sie machte keine eiligen Schritte, er musste warten, denn die Termine mit dem Anwalt und dem Bestattungsbüro konnten nicht ohne sie stattfinden. Als sie ihn eingeholt hatte, stieg sie auf der Beifahrerseite ein und legte den Gurt an. Keiner von ihnen sagte etwas, denn es gab nichts zu sagen. Ein weiterer Streit um die Kastanie und die Töpferwerkstatt musste warten, bis sie einen Anwalt eingeschaltet hatten.
Unten an der Straße bogen sie nach links ab, und Anna-Karin sah zum Hotel hin. Weiß mit grauen Holzverzierungen thronte es dort auf dem Hügel, mit der besten Aussicht des Ortes.
Der frühere rote Großbauernhof des Dorfes.
Das Wohnhaus hatten sie nun weiß gestrichen.
»Ich möchte nicht, dass der Beerdigungskaffee im Hotel stattfindet. Wir müssen eine Zeit im Gemeindehaus buchen.«
»Es war doch vereinbart, dass wir zum Kaffee ins Hotel einladen.«
»Nein, das werden wir nicht.«
»Warum denn nicht?«
»Es ist besser so.«
Lasse seufzte. Seine behandschuhten Finger trommelten gegen das Lenkrad. Sie hatte keine Lust, etwas zu erklären. Wurde nur noch einmal an Helenas mangelndes Einfühlungsvermögen erinnert. Verner, der plötzlich wie selbstverständlich dort gesessen hatte. Sie fragte sich, wie lange er und Helena hinter ihrem Rücken bereits Kontakt hatten. Jetzt, nachdem sie ihre wahre Seite gezeigt hatte, war das auch nicht mehr so erstaunlich. Sie hatte es manchmal flüchtig gesehen, das, was ihr an Helena nie gefallen hatte. Besonders diese Selbstgefälligkeit, die manchmal hervortrat, wenn sie über die Leute im Dorf sprach. Sie erinnerte sich, wie sie sich beschwert hatte, als sie eingezogen waren, wie sie gesagt hatte, sie hätten sich nicht willkommen gefühlt. Aber was verlangte sie? Schon in der
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