Eine zweite Chance
Emelie aufstand. »Nein, bleibt nur sitzen. Ich kann abräumen. Wollt ihr Kaffee?«
Helena blickte liebevoll auf ihre Tochter. Jetzt hatte Emelie mehr als genug getan, um ihre Reue zu zeigen. »Es ist nicht nötig, Emelie, ich kümmere mich darum.«
»Nein, lass mich. Wollt ihr Kaffee?«
Anders lehnte dankend ab, und Helena trank abends nie Kaffee. Schweigend betrachteten sie Emelie, als sie abräumte und mit dem ersten Geschirrstapel in der Küche verschwand.
»Was für eine tolle Tochter du hast.«
Helena lächelte. »Ja, sie ist klasse.«
Sie nahm einen Schluck Wein und sah, dass die Flasche leer war. Gerade heute Abend hätte sie gewünscht, sie hätte etwas länger gereicht. Der Alkohol machte alle scharfen Kanten weich, und das Dasein wurde etwas erträglicher. Es war so verführerisch. Sie hatte immer sehr maßvoll getrunken, mit großem Respekt vor der Wirkung des Alkohols. Denn er war ein trügerischer Trost, den sie schon als Kind durchschaut hatte, und für diese Erfahrung hatte sie teuer bezahlt. Aber gerade heute Abend, nach diesen verwirrenden vierundzwanzig Stunden, und als alles sich ausnahmsweise gut anfühlte, könnte sie es sich wohl doch gönnen. Zugleich fürchtete sie, was Anders denken würde, wenn sie vorschlug, eine weitere Flasche zu holen.
Sie lächelten einander zu, ein bisschen scheu, in dem Bewusstsein, dass es still geworden war, nachdem diejenige, die am meisten geredet hatte, verschwunden war. Es war Zeit, in neue Rollen zu schlüpfen, nachdem ihre Regisseurin sie verlassen hatte. Anders strich mit der Hand über das Tischtuch und fegte ein paar Krümel zusammen.
»Diese Anna-Karin, von der ihr gesprochen habt, das klang ja nicht so lustig.«
Helena seufzte und schnaubte in einem Atemzug. »Nein, es ist nicht so lustig. Oder ja, was soll man sagen?«
Emelie tauchte auf, um den Rest zu holen. »Sag, wie es ist. Dass sie ein hinterhältiges Miststück ist.«
»Aber Emelie!«
»Aber das ist sie doch. Ich habe noch nie jemanden so viel Mist über andere Leute sagen hören wie sie, sie ist sogar schlimmer als Emma in meiner Klasse.« Emelie räumte das restliche Geschirr ab und hob die leere Weinflasche. »Soll ich noch eine holen?«
Zuerst erstaunt über Emelies Vorschlag, danach ratlos, spielte Helena den Entschluss zur anderen Seite des Tisches hinüber.
Anders zuckte die Achseln. »Von mir aus gern. Wenn du willst?«
»Klar, warum nicht?«
Emelie lächelte und ging zur Küche.
»Nimm eine von den Flaschen rechts aus dem Regal in der Mitte.« Sie lächelte Anders zu und senkte die Stimme. »Den Wein aus dem untersten Regal serviere ich nur garstigen Gästen.«
»Das fasse ich als Kompliment auf.«
»Du musst ja noch alles fertig streichen.« Sie hob das Weinglas an die Nase und roch daran. »Kennst du dich mit Weinen aus, ich meine, bist du ein Weinkenner?«
»Na ja, ein paar Sorten habe ich wohl schon probiert.«
Emelie kam mit der Flasche und einem Korkenzieher zurück, überließ Anders aber das Öffnen. Helena holte zwei neue Gläser vom Nebentisch, und Emelie kehrte in die Küche zurück. Sie hörten sie mit dem Geschirr klappern.
Anders schenkte ein. »Skål, und danke für einen sehr netten Tag und für einen noch netteren Abend.«
»Danke dir.« Sie nahmen einen Schluck. »Das hätte ich gestern zu dieser Zeit nicht gedacht. Dass wir heute Abend hier sitzen würden.«
»Nein, man kann sagen, dass das ein wenig unerwartet kam.«
Sie entdeckte seine Armbanduhr. Eine altmodische, in Gold und länglich und mit einem Armband aus abgewetztem Leder. »Was für eine schöne Uhr, sie sieht alt aus. Ist es ein Erbstück?«
»Ja, das könnte man vielleicht sagen.« Er strich mit den Fingern über das Glas des Zifferblatts. »Von meinem Vater.«
»Lebt er noch?«
»Nein. Er ist jetzt seit fünf, sechs Jahren tot. Und deine Eltern, sind die noch am Leben?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, meine Mutter hat sich vor zehn Jahren totgesoffen, und meinen Vater habe ich nie kennengelernt.« Sie lachte auf. »Was für ein Familienidyll.« Sie merkte auf einmal, dass sie beschwipst war. Das war keine Sache, die ihr gewöhnlich so leicht über die Lippen ging. Anders wirkte plötzlich verlegen, und sie lächelte, um es herunterzuspielen. »Ach, ich habe jetzt meine traurige Kindheit hinter mir gelassen. Auf Mord steht ja fünfundzwanzig Jahre Verjährung, da kann ich doch nicht weiter darüber nachgrübeln. Das nutzt schließlich niemandem.«
Eine diffuse Episode.
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