Eine zweite Chance
Etwas, das sie hinter sich gelassen hatte, wie ein Paar aus Zerstreutheit liegen gelassene Handschuhe.
Sie verstummte. Die Gedanken gingen ihre eigenen Wege, gelenkt von dem Wein, den sie getrunken hatte. Denn jetzt war es ja tatsächlich so, dass die Kindheit mit einer diffusen Episode verglichen werden konnte. Aber sie hatte ein paar Jahre dazu gebraucht, sich von ihr zu befreien, alle Gefühle zu formulieren und zuzugeben, wie weh es getan hatte. Angefeuert von Martin. Seither war die Erinnerung mit der Zeit ihrer Macht beraubt worden.
Zum zweiten Mal an diesem Tag betrachtete sie ihren linken Ringfinger. Die ausgelöschte Spur. Die sichtbar gemachte Veränderung.
»Diese Anna-Karin, du willst nicht über sie sprechen, nicht wahr?«
»Was? Doch, natürlich.« Sie kratzte sich hinter dem Ohr. »Was willst du wissen?«
Er warf ihr einen amüsierten Blick zu. »Nein, nichts Besonderes, ich dachte nur, du würdest ein bisschen erzählen wollen. Ich habe von diesem Gespräch in der Küche nicht so viel verstanden, als deine Nachbarn hier waren.«
Der Damm brach, und die Worte strömten aus ihr heraus. Während der Weinpegel in der Flasche sank, erzählte sie von Anna-Karin, davon, warum Lasse und Lisbeth es nicht mehr schafften, dort wohnen zu bleiben, und von ihrer neuen Bekanntschaft mit Verner. Sie verstrickte sich in belanglose Einzelheiten, verlor den Faden und kam wieder in Fahrt. In regelmäßigen Abständen bekam sie Angst, dass sie ihn langweilte, und entschuldigte sich für ihren Redeschwall. Doch er versicherte ihr, das mache nichts, für ihn sei das eine gute Art, mehr über diese Gegend zu erfahren. Ihr Bedürfnis zu reden schien unerschöpflich. Es war so lange her, seit es jemanden gegeben hatte, der ihr zuhörte. Die Worte drängten sich, um zur Sprache zu kommen. »Meine Güte, was rede ich da.«
»Das ist absolut okay.«
»Ich glaube bestimmt, dass der Wein nachgeholfen hat, mittlerweile kommt das ja nicht mehr so oft vor.«
»Was? Der Wein oder das Reden?«
Vielleicht sah sie verlegen aus, aber es war egal. »Beides, wenn ich ehrlich sein soll.«
Er lächelte ihr zu. Es war ein gutes Gefühl, dass jemand ihr zulächelte. »Man wird ja ziemlich neugierig auf Verner.«
»Stimmt. Er ist ein wandelndes Rätsel.«
Die Geräusche aus der Küche waren schon lange verstummt. Emelie war nach oben in ihr Zimmer gegangen. Sie hörten ihre Schritte im Obergeschoss. Helena schloss die Augen und wurde in die Sommer ihrer Kindheit zurückversetzt. Die Geräusche waren damals die gleichen gewesen. In ihrem Kopf drehte es sich.
»Wie wunderbar Emelie ist. Ein tolles Mädchen.«
Er saß da und schaute zur Decke. Vielleicht bildete sie sich nur ein, einen Hauch von Trauer zu sehen. Er hatte gesagt, er habe keine Kinder, das war eins der wenigen Dinge, die er ihr erzählt hatte. Abermals kam ihr in den Sinn, was sie alles nicht von ihm wusste. Wo er herkam, wo er wohnte, wie er lebte.
»Bist du verheiratet?«
»Was, nein.«
»Geschieden?«
»Nein, nicht einmal das.« Er nahm einen Schluck Wein. »Ein paarmal war ich kurz davor zu heiraten, aber ehrlich gesagt waren es immer die Frauen, die das wollten. Mir selbst reichte das Zusammenleben. Das Juristische wird viel komplizierter, wenn man verheiratet ist.«
»Wie meinst du das? Ich dachte, das Gegenteil sei der Fall.«
»Nicht, wenn man sich scheiden lässt.«
»Nein, das ist klar, aber das ist ja kaum der Grund dafür, dass man heiratet.«
Er zuckte die Achseln, lächelte ein bisschen resigniert. »Ich war wohl ganz einfach nicht besonders gut in Liebesbeziehungen. Und du? Warst du mit Emelies Vater verheiratet?«
Sie nickte.
»Ist er von hier?«
»Nein, aus Stockholm. Wir sind zusammen hierhergekommen, aber er ist vor einem halben Jahr wieder zurückgegangen.« Sie griff nach der Weinflasche und goss den Rest in die Gläser. Ein Tropfen lief am Flaschenhals herunter und wurde von ihrem Zeigefinger aufgefangen. Es wäre zu schade, ihn zu vergeuden. Sie leckte den Finger ab. »Die Scheidung wird in vier Tagen rechtskräftig. Wenn man gemeinsame Kinder hat, werden einem sechs Monate Bedenkzeit aufgezwungen.« Sie hob das Weinglas zum Mund, und der Schluck wurde größer als geplant.
»Vier Tage, sagst du. Hast du es nicht inzwischen bereut?«
»Wie meinst du das?«
»Bevor die Bedenkzeit abläuft.«
Sie lachte auf. »Was bringt dich auf den Gedanken, dass ich es bin, die es bereuen muss?«
Sie entdeckte Erstaunen in seinem Gesicht.
»Oh,
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