Einem Tag in Paris
trinken. Der Wein ist köstlich.
»Erzählen Sie mir Ihre Liebesgeschichte«, sagt Chantal.
»Da gibt es nichts zu erzählen«, sagt Jeremy. »Ich würde viel lieber etwas über dieses Boot erfahren.«
»Zuerst die Liebe«, beharrt Chantal.
Und so beginnt Jeremy mit seiner Geschichte. Oder beginnt wieder. Und diesmal wird seine Geschichte ein Märchen, eine gewaltige Lüge. Er hat sich nie zuvor Geschichten ausgedacht.
»An jenem Abend ging ich in den Speisesaal des Ferienlagers, wo wir alle nach den Abendaktivitäten immer herumhingen. Sie wartete auf mich. Sie trug ihr Haar zum ersten Mal offen, und es lag auf ihrem Rücken wie eine Decke. Ich hatte noch nie so schönes Haar gesehen.«
Chantal blickt zufrieden, daher fährt Jeremy fort, mit tiefer Stimme, und die französischen Worte kommen ihm so leicht über die Lippen, als würde er oft mit einer jungen Frau in Paris auf einem Hausboot sitzen und sich unmögliche Liebesgeschichten ausdenken.
»Ich war schüchtern – ich bin noch immer irgendwie schüchtern –, aber damals war ich oft schweigsam in großen Gruppen von Kindern, unsicher auf eine Art, die es mir schwer machte, frei zu sein. Bei Sarah fühlte ich mich mutig, ich fühlte mich älter und weiser und besser aussehend, als ich tatsächlich war.«
Chantal lacht, und Jeremy trinkt einen Schluck Wein.
»Sarah fragte mich, ob ich sie mögen würde. Ich sagte ja. Ich sagte ihr, ich fände, sie sei das hübscheste Mädchen im Ferienlager. Ich sagte, ich wünschte, ich wäre alt genug, um ihr Freund zu sein. Sie sagte mir, sie hätte für die älteren Jungen nichts übrig, sie wären so überzeugt von sich. Ihr gefiel, dass ich still war. So viele Jungen würden immer nur von sich reden, sagte sie.«
Jeremy begreift, dass er auf einmal einer dieser Jungen ist – der nur von sich redet. Und nichts an dieser Geschichte klang wahr – es war lächerlich, dass ein älteres Mädchen einen solchen Jungen wählen würde. Aber Chantal wartet auf die Fortsetzung der Geschichte, und Jeremy weiß nicht, wie er aus seinem Fehler wieder herausfinden soll.
»Ich fragte sie, ob sie schon einmal nachts in dem See geschwommen sei. Sie sagte, nein, das sei nicht erlaubt, und sie hätte einmal von einem Mädchen gehört, das nachts schwimmen gegangen und nie zurückgekommen sei. ›Gehen wir‹, sagte ich. ›Es ist sicher. Niemand wird uns finden.‹«
»Mutiger Junge«, sagt Chantal.
Nein, will Jeremy rufen. Ich bin nicht dieser mutige Junge! Ich war nie dieser mutige Junge.
»Wir gingen zum Ufer des Sees. An dem Abend fand eine Tanzveranstaltung statt, sodass alle anderen entweder im Tanzsaal oder im Speisesaal waren – es war niemand sonst am Strand. Und es war so dunkel, dass wir einander kaum sehen konnten. Es war mitten auf dem Land in New Hampshire, weit weg von allen Großstadtlichtern oder -geräuschen.«
»Klingt wundervoll«, sagt Chantal. Sie schließt die Augen, und Jeremy stellt sich vor, dass sie mit ihm an diesem See ist, am Rand des Wassers steht, ihren ganzen Mut zusammennimmt, um ihre Kleider auszuziehen.
»Ich habe mich als Erster ausgezogen. Wir gingen zum Rand der Anlegestelle, und ich ließ meine Kleider in einem Bündel auf den Holzplanken liegen und stürzte mich dann nervös kopfüber ins Wasser. Als ich wieder auftauchte, um Luft zu holen, war sie mitten im Sprung, nackt, unglaublich schön. Ich hatte noch nie ein nacktes Mädchen gesehen.«
Jeremy hört auf zu reden. Er hat noch nichts gegessen, und irgendwie ist sein erstes Glas Wein auf einmal einfach leer. Er hat heute noch nichts gegessen bis auf ein paar Stückchen Brot mit Olivenöl. Vielleicht liegt es an dem leichten Schaukeln des Boots, aber er fühlt sich aus dem Gleichgewicht geworfen.
»Lassen wir das nackte Mädchen dort mitten im Sprung«, sagt er. »Ich brauche jetzt erst einmal etwas von diesem Käse.«
Chantal lacht. »Arme Sarah«, sagt sie. »So bloßgestellt.«
»Sarah kann auf die kalten Wasserspritzer warten. Ich kann nicht länger warten.«
Er nimmt sich etwas Brot und sticht mit einem Messer in den Camembert, der auf dem Teller zerlaufen ist. Er streicht ihn auf sein Brot und lässt sich den scharfen Geschmack auf der Zunge zergehen. Chantal nimmt eine Scheibe Birne und eine Scheibe Ziegenkäse, legt beides übereinander und reicht es ihm.
»Merci«, sagt er. Das Essen scheint ihm im Mund zu schmelzen.
»Bitte«, sagt er. »Erzählen Sie mir die Geschichte Ihrer ersten Liebe, damit ich essen
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