Einem Tag mit dir
ihren Lippen zu verbergen suchte.
»Allerdings«, stimmte ich ihr zu. »Ich verstehe gar nicht – wenn sie diesen Ort hier dermaßen verabscheut, warum hat sie sich dann freiwillig zum Dienst gemeldet?«
»Es hat irgendetwas mit ihrer Vergangenheit zu tun«, sagte die Frau.
»Was meinen Sie damit?«
»Ich weiß nur, was eine andere Schwester mir auf dem Festland erzählt hat«, sagte sie und senkte die Stimme. »Sie war schon mal hier, vor langer Zeit. Und da ist irgendwas Schlimmes vorgefallen.«
»Was denn?«
»Das weiß ich nicht genau. Irgendein Skandal.«
»Das heißt doch nicht etwa, dass sie eine Kriminelle ist?«, rief Kitty aus.
Die Frau zuckte die Schultern. »Wer weiß? Ich würde mich jedenfalls besser nicht mit ihr anlegen«, erwiderte sie. »Ich heiße übrigens Mary«, fügte sie mit einem Nicken hinzu.
»Ich bin Anne.«
»Und ich bin Kitty.«
Mary legte einen aufgerollten Verband in die Kiste auf dem Tisch. »Was hat Sie hierhergeführt?«
Kitty öffnete den Mund, aber ich kam ihr zuvor. »Dienst am Vaterland«, sagte ich.
Mary grinste. »Sagen wir das nicht alle? Nein, warum sind Sie wirklich hier? Wir sind doch alle entweder auf der Flucht vor oder auf der Suche nach irgendetwas. Was ist es bei Ihnen?« Sie betrachtete meinen Verlobungsring, vielleicht, weil ich daran herumspielte.
Aber diesmal war Kitty schneller. »Anne war verlobt«, setzte sie an, aber ich fiel ihr ins Wort.
»Ich bin verlobt«, stellte ich richtig.
»Ja, Anne ist verlobt, aber sie hat ihre Hochzeit verschoben, um mich zu begleiten.« Kitty rieb ihre Schulter an meiner, wie um sich zu bedanken. »Ich hatte eine unglückliche Beziehung hinter mir, und ich wollte nur noch weg.«
»Ich auch«, sagte Mary und hielt ihre linke Hand hoch. »Mein Verlobter hat die Verlobung gelöst. Er ist eines Tages vorbeigekommen und hat mir erklärt, dass er mich nicht liebt. Wie hat er sich noch ausgedrückt?« Sie schaute zur Decke und überlegte. »Ah ja«, fuhr sie fort. »Er hat gesagt: ›Hallo, Schatz, ich mag dich, aber ich liebe dich nicht.‹ Und als hätte das noch nicht gereicht, hat er auch noch verkündet, dass er meine beste Freundin heiraten würde. Anscheinend waren sie schon seit Monaten zusammen. Ehrlich gesagt, das war so furchtbar, dass ich fast durchgedreht bin. Als ich wieder halbwegs vernünftig denken konnte, war mir klar, dass ich wegmusste. Ich woll te in den hintersten Winkel der Welt, um den Schmerz zu lindern. Unsere Hochzeit war für den Herbst geplant, im Hotel Cartwright in San Francisco.« Sie betrachtete ihre Hände und seufzte. »Es sollte ein rauschendes Fest werden.«
»Das tut mir leid«, sagte ich.
»Danke«, erwiderte sie. »Inzwischen macht es mir nichts mehr aus, darüber zu reden.« Sie nahm sich den nächsten Verband vor. »Wir wollten nach Paris ziehen«, fuhr sie fort. »Er wollte – na ja, er will – in den diplomatischen Dienst eintreten.« Sie schüttelte wehmütig den Kopf. »Ich hätte mich nie in Edward verlieben dürfen. Meine Mutter hatte von Anfang an recht. Er sah viel zu gut aus für mich.« Sie zuckte die Schultern und überspielte ihren Kummer, indem sie sich praktischen Dingen zuwandte. »Tja, und jetzt bin ich also hier. Und Sie?« Sie schaute mich an. »Lieben Sie den Mann, den Sie heiraten werden?«
»Natürlich«, antwortete ich ein bisschen empörter als gewollt.
»Und warum sind Sie dann hier und nicht zu Hause bei ihm?«
Warum war ich dort und nicht bei ihm? War die Antwort wirklich so einfach? Ich dachte eine Weile über die Frage nach. Suchte ich das Abenteuer, so wie Kitty? Oder hatte ich mir Maxines Worte zu Herzen genommen und wollte die Chance nutzen, noch etwas – oder jemand – Neues kennenzulernen, ehe ich mich für mein Leben band? Ich schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu verscheuchen. Nein, ich war wegen Kitty hier. So einfach war das .
»Weil meine Freundin mich braucht«, sagte ich.
»Das ist aber lieb«, sagte Mary. »Sie beide haben Glück, dass Sie einander haben, wissen Sie das? So eine Freundin habe ich nicht.«
Kitty, großzügig wie immer, lächelte Mary an. »Wie wär’s mit uns?«
Mary entblößte ihre schiefen Zähne. »Keine schlechte Idee«, sagte sie und legte die nächste Verbandrolle in die Kiste. Wir hatten inzwischen mindestens hundert Rollen gewickelt. Es war keine große Sache, und dennoch war ich stolz auf unsere Leistung. Ein Berg Verbände an unserem ersten Tag auf Bora-Bora. Wir taten etwas. Das war das
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