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Einem Tag mit dir

Einem Tag mit dir

Titel: Einem Tag mit dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Jio
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Atea, dann mich an. »Ja«, sagte sie. »Er hieß Paul. Paul Gauguin.«
    Am folgenden Abend war Mary gerade dabei, die Wolle zu verteilen, als von draußen laute Stimmen zu hören waren. Wir blickten auf, als ein Mann die Tür zum Aufenthaltsraum aufriss. »Schwestern, schnell!«, rief er. »Sie werden im Lazarett gebraucht! Ein Flugzeug mit Verwundeten ist gerade gelandet!«
    Ich ließ meine Stricknadeln fallen und rannte zusammen mit den anderen zum Lazarett, wo Schwester Hildebrand Anweisungen rief. »Kitty, Sie bleiben bei mir und assistieren Doktor Wheeler. Stella, Sie kümmern sich um die Betten eins bis elf. Liz, Sie nehmen die Betten zwölf bis neunzehn. Mary, Anne, Sie nehmen die Neuzugänge auf. Sorgen Sie dafür, dass alles seine Ordnung hat. Es wird schlimm diesmal. Aber dazu sind wir schließlich hier. Seien Sie stark.«
    Wir begaben uns an unsere Arbeitsplätze, und dann wurden auch schon die Verwundeten hereingebracht. So etwas Schreckliches hatten wir noch nie gesehen. Die Männer waren fürchterlich zugerichtet, viele schrien und stöhnten, es war die reine Hölle.
    Mary und ich nahmen die Neuzugänge auf und teilten sie ein. Einige wimmerten, andere verlangten so verzweifelt nach Hilfe, dass es einem das Herz brach. Ein junger Soldat mit einer Kopfverletzung zog so heftig an meinem Ärmel, dass er abriss. »Mama!«, kreischte er. »Mama!«
    Es war kaum zu ertragen. Das Blut und das Elend und die Schmerzen. Besonders bestürzend war es mitzuerleben, wie die Männer in ihrem Leid zu Kindern wurden. Aber wir machten unbeirrt weiter, entschlossen, stark zu sein, wie Schwester Hildebrand es von uns verlangt hatte.
    Um halb drei Uhr morgens landete das letzte Flugzeug. Neun Verwundete wurden ins Lazarett gebracht. Plötzlich hörte ich Mary an der Tür schreien. Ich wusste sofort, was los war.
    Ich rannte zu ihr. Auf einer Trage, die gerade hereingeschoben worden war, lag Lou – leblos, blutüberströmt.
    Der Soldat an der Tür schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Ma’am«, sagte er. »Er ist im Flugzeug gestorben. Wir haben getan, was wir konnten.«
    »Nein!«, schrie Mary kopfschüttelnd. »Nein!«
    Sie packte den Soldaten am Kragen. »Haben Sie denn nicht versucht, ihm zu helfen? Warum haben Sie ihn nicht gerettet?«
    »Ma’am«, erwiderte er. »Ich versichere Ihnen, dass wir alles in unserer Macht Stehende für ihn getan haben. Es hat ihn einfach zu schlimm erwischt.«
    »Nein«, rief Mary. »Das kann nicht sein.« Sie warf sich auf Lous blutverschmierte Brust. »Lou«, schluchzte sie. »Lou! O nein, Lou!«
    Liz kam zu uns. »Wir müssen sie beruhigen«, sagte sie. »Hilfst du mir?«
    »Mary«, sagte ich. »Mary, hör auf. Er ist tot. Es hat keinen Zweck.«
    »Nein!«, schrie sie und stieß mich von sich weg. Ihr Gesicht war mit Lous Blut beschmiert. Ich bedeutete Liz, mir zu helfen.
    »Mary«, sagte ich sanft und nahm ihren linken Arm, während Liz den rechten packte. »Wir bringen dich jetzt ins Bett.«
    »Nein«, jammerte Mary.
    »Liz, besorg mir schnell ein Beruhigungsmittel!«, sagte ich.
    Sie nickte und brachte mir eine Spritze. Mary reagierte nicht einmal, als ich ihr die Nadel in den Arm jagte. Dann sackte sie in sich zusammen.
    »So«, sagte ich und legte sie vorsichtig auf ein Bett. Auf dem Laken befand sich ein Blutfleck. Das Blut von jemand anderem. Aber wir hatten keine Zeit, die Laken zu wechseln. Mit einem feuchten Lappen wischte ich Lous Blut von Marys Gesicht. »Ruh dich aus«, sagte ich leise.
    »Lou«, murmelte sie schwach, dann fielen ihr die Augen zu.
    Eine Weile sah ich zu, wie ihr Atem ruhiger ging, und dachte, wie unfair das alles war. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, war sie endlich einem Mann begegnet, den sie liebte, nur um ihn kurz darauf auf so tragische Weise wieder zu verlieren. Es war ungerecht.
    Schweigend gingen Kitty und ich nach der Schicht zu unserer Unterkunft. Jetzt hatten wir den Krieg gesehen, oder vielmehr die Folgen des Kriegs – in seiner ganzen Scheußlichkeit und Grausamkeit.
    Erschöpft fielen wir in unsere Betten und lauschten noch lange dem Dröhnen der Flugzeuge, die über die Insel hinwegflogen. Ich betete im Stillen für Westry und fragte mich, für wen Kitty wohl beten mochte oder an was sie dachte.
    »Anne«, flüsterte sie, nachdem es draußen am Himmel eine Zeit lang still gewesen war. »Bist du noch wach?«
    »Ja.«
    »Ich muss dir etwas sagen. Etwas Wichtiges.«
    Ich setzte mich auf. »Ja?«
    Sie seufzte und schaute mich mit

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