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Einem Tag mit dir

Einem Tag mit dir

Titel: Einem Tag mit dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Jio
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Sie können herauskommen.«
    Alle stießen Jubelrufe aus – alle bis auf Kitty, die ausdruckslos vor sich hin starrte. »Los, komm, steh auf«, sagte ich zu ihr. »Es ist vorbei. Wir dürfen wieder nach draußen.«
    Sie wirkte verblüfft, als wäre sie aus einem Traum aufgewacht. »Ja, natürlich«, murmelte sie und ging vor mir her zur Leiter.
    »Ich kann es noch gar nicht fassen, dass wir morgen abreisen«, sagte Liz am nächsten Morgen beim Frühstück.
    Morgen . Ich fürchtete diesen Moment seit dem Tag, an dem ich mich in Westry verliebt hatte. Die Insel zu verlassen bedeutete das Ende unserer Welt und den Beginn einer neuen Welt, die sich, so fürchtete ich, komplizierter gestalten würde, als wir es uns vorstellen konnten.
    »Die Männer brechen schon am frühen Morgen auf«, berichtete Stella. Will war ebenso wie Westry an die Front in Europa beordert worden, und wir waren beide zutiefst bedrückt deswegen.
    »Ich dachte«, fuhr sie fort, »ich könnte mich zum Einsatz in Europa melden, dann wäre ich wenigstens in seiner Nähe. Für den Fall …«
    Ich schüttelte den Kopf. Der Krieg hatte von Stella seinen Tribut gefordert. Sie war schrecklich abgemagert und hätte sich dringend zu Hause erholen müssen. »Wenn du dich zum Dienst in Europa meldest, kannst du Will auch nicht schützen«, sagte ich. »Fahr nach Hause und warte dort auf ihn.«
    Sie nickte. »Habt ihr schon gehört? Kitty geht nach Frankreich, direkt an die Front. Mit einer Gruppe, die in der Normandie eingesetzt wird.«
    Mir wurde ganz heiß. Frankreich? Warum hatte sie mir nichts davon erzählt? Glaubte sie, das würde mich nicht interessieren?
    »Tja, wenn man vom Teufel spricht …«, bemerkte Stella und zeigte zur Tür.
    Kitty betrat lächelnd die Kantine. Ihre Wangen wirkten wieder so rosig wie früher. Als sie auf unseren Tisch zukam, sah ich, dass sie einen Strauß gelbe Hibiskusblüten in der Hand trug. Mir stockte der Atem.
    »Morgen, Mädels«, flötete sie. »Wie schmeckt das Essen heute?«
    Ich spürte Stellas Blick auf mir.
    »Prima«, sagte Liz, ohne die Spannung zu bemerken, die in der Luft lag. »Wenn man Gummi-Eier mag.«
    Kitty lachte und legte die Blumen, die von einem wei ßen Band zusammengehalten wurden, auf den Tisch. »Sind die nicht prächtig?«, sagte sie und bewunderte die gelben Blüten. Ich wusste natürlich sofort, woher sie stammten – von dem Strauch neben der Hütte.
    »Donnerwetter«, bemerkte Stella. »Sieht so aus, als hätte unsere Kitty einen neuen Verehrer.«
    »Also wirklich, Stella«, sagte Kitty.
    »Oder woher hast du die Blumen?«, insistierte Stella. Ich wünschte, sie würde aufhören. Ich wollte es nicht wissen.
    Kitty lächelte geheimnisvoll und reihte sich in die Schlange an der Essensausgabe ein.
    Stella räusperte sich und grinste mich an. »Hab ich dich nicht gewarnt, damals, als wir angekommen sind?«
    Ich sprang auf und ging zur Tür.
    »Anne«, rief Stella hinter mir her. »Warte! Das war nicht so gemeint! Komm zurück!«
    Mit klopfendem Herzen ging ich zum Schwestern trakt. In Gedanken ließ ich die vergangenen Wochen noch einmal Revue passieren. Ich dachte daran, wie Kittys Augen jedes Mal aufleuchteten, sobald Westry auftauchte, daran, wie sie sich immer mehr von mir zurückzog. Natürlich fühlte sie sich zu ihm hingezogen.
    Ich erstarrte. War es möglich, dass er ihre Gefühle erwiderte? Jeder Mann in der Vergangenheit – außer Gerard – hatte Kitty mir vorgezogen. Sie war immer die Erste von uns beiden, die zum Tanzen aufgefordert wurde. Sie hatte ein halbes Dutzend Einladungen zum Schulabschlussball erhalten, ich dagegen nur eine einzige. Meine Gedanken rasten. Der Brief. Mein Gott. Die Vorstellung, dass jemand ihn gestohlen und gelesen haben könnte, schien Westry überhaupt nichts auszumachen. Hatte er ihn womöglich verschwinden lassen, damit er nicht auf meine Liebeserklärung reagieren musste? Auf mein Geständnis hin, dass ich mir eine Zukunft mit ihm wünschte?
    Ich trat nach einem Stein und schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu verscheuchen. Nein, ich wollte so etwas nicht denken. Nicht, wenn wir morgen aufbrachen, nicht, wenn uns nur noch wenige gemeinsame Stunden blieben. Die Zeit war zu kostbar für diesen Unsinn.
    »Das war’s«, sagte Kitty am nächsten Morgen nach dem Frühstück und seufzte. Sie zog den Reißverschluss ihrer Reisetasche zu, die seltsamerweise viel kleiner wirkte als das Ungetüm, das ich vor zehn Monaten in dieses Zimmer geschleppt

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