Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einem Tag mit dir

Einem Tag mit dir

Titel: Einem Tag mit dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Jio
Vom Netzwerk:
so weit zur Seite, dass ich einen Blick dahinter werfen konnte. Ich sah vier Betten, und in jedem lag ein Soldat. Mir stockte der Atem, als ich das Gesicht des Mannes erkannte, der in dem hintersten Bett lag.
    Westry .
    Meine Knie wurden weich. Er war total abgemagert. Er war unrasiert, aber er sah immer noch so gut aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Ich zog den Vorhang ein bisschen weiter auf, hielt jedoch inne, als Kitty auftauchte. Sie setzte sich auf einen Stuhl neben Westrys Bett und wischte ihm liebevoll mit einem feuchten Waschlappen das Gesicht ab. Dann streichelte sie seine Wange. Und er schenkte ihr ein Lächeln, das mir den Atem raubte.
    Jemand zupfte an meinem Ärmel. »Anne«, flüsterte Mary, »tu dir das nicht an. Lass ihn los.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Westry«, schluchzte ich und vergrub mein Gesicht an Marys Schulter. »Wie kann sie mir das antun?«
    Mary hob mein Kinn an und wischte mir mit einem rosafarbenen Taschentuch die Tränen von den Wangen. »Es tut mir so leid für dich«, sagte sie. »Jetzt komm, lass uns gehen.«
    Ich folgte ihr aus dem Saal. Kurz bevor wir den Aufzug erreichten, blieb ich stehen und nahm einen Stift und einen Zettel aus meiner Handtasche.
    Mary schaute mich verwirrt an, als ich mich auf die Bank setzte. »Was machst du da?«
    Eine Minute später stand ich auf und reichte ihr den zusammengefalteten Zettel.
    Sie betrachtete ihn skeptisch.
    »Kitty wird jeden Brief abfangen, den ich ihm schreibe«, sagte ich. »Du bist meine einzige Hoffnung.«
    »Bist du dir ganz sicher, dass du ihm noch etwas mitteilen willst?«
    Ich nickte. »Ich möchte, dass er das liest.«
    »Also gut, ich werde dafür sorgen, dass er es bekommt«, sagte sie. »Ich habe morgen Frühschicht, dann kann ich ihm den Zettel geben.«
    »Versprochen?«, fragte ich und schaute ihr ängstlich in die Augen.
    »Versprochen«, sagte sie leise. Sie wirkte erschöpft. »Ich tue, was ich kann.«
    Auch in Seattle musste ich jeden Tag an Westry denken. Mehr als ein Monat war seit meinem Besuch in Paris vergangen, aber trotz aller Ablenkungen und trotz meiner bevorstehenden Hochzeit konnte ich Westry nicht aus meinem Kopf und nicht aus meinem Herzen verbannen. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, zuckte ich zusammen, und jeden Morgen saß ich am Fenster und wartete auf den Briefträger. Er würde doch bestimmt schreiben oder anrufen, nachdem er meine Nachricht gelesen hatte, oder?
    Dann, als Maxine und ich uns an einem Dienstagmorgen fertig machten, um in die Stadt zu gehen, klingelte es an der Tür. Ich ließ meine Handtasche fallen, ein Lippenstift fiel heraus und rollte über den Boden.
    »Ich mache auf!«, rief ich Maxine zu. Draußen stand der Briefträger.
    »Guten Morgen, Ma’am«, sagte er. »Sind Sie Miss Calloway?«
    »Ja«, sagte ich.
    Er reichte mir einen Umschlag. »Telegramm für Sie«, sagte er lächelnd. »Aus Paris. Wenn Sie bitte hier unterschreiben würden.«
    Mit klopfendem Herzen unterschrieb ich die Empfangs bestätigung, dann rannte ich nach oben in mein Zimmer und schloss die Tür. Meine Hände zitterten, als ich den Umschlag aufriss. Ein gelbes Blatt mit fünf getippten Zeilen fiel heraus. Ich hielt es ins Licht und holte tief Luft.
    Sind früher als geplant nach Paris zurückgekommen STOP
    Mary ist tot STOP
    Hat sich am 18. September erhängt STOP
    Edward hat ihr das Herz gebrochen STOP
    Alles Liebe und herzliche Grüße aus Europa von Stella STOP
    Ich starrte auf das Telegramm, vor Schreck wie gelähmt. »Nein!«, stöhnte ich, als ich meine Stimme wiedergefunden hatte. Nicht Mary . Ich dachte an ihre traurigen Augen, an ihre belegte Stimme. Sie hatte schrecklichen Kummer erlebt, aber dass sie sich umgebracht hatte? Es war unfassbar. Tränen liefen mir über die Wangen, als ich das Papier zerknüllte und auf den Boden fallen ließ.
    Mein Puls raste. O Gott, wann hatte sie sich erhängt? Ich hob das Blatt vom Boden auf. Am 18. September . O nein. Das konnte nicht sein.
    Von Entsetzen erfüllt blickte ich auf. Mary war nicht zu ihrer Frühschicht gegangen, nachdem ich abgereist war. Sie war gestorben, ehe sie Westry meine Nachricht hatte überbringen können.
    »Bist du so weit?«, fragte Gerard am Morgen unserer Hochzeit zwei Wochen später. Entgegen der Tradition hatte er darauf bestanden, mich abzuholen und mit mir zusammen zur Kirche zu fahren, vielleicht, weil er fürchtete, dass ich andernfalls nicht kommen würde.
    Ich schaute ihn an, wie er dort in der Tür stand. Er sah

Weitere Kostenlose Bücher