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Einem Tag mit dir

Einem Tag mit dir

Titel: Einem Tag mit dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Jio
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einer schattigen Stelle in den Sand. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Natürlich war die Hütte nicht mehr da. Wie hatte ich bloß so naiv sein können anzunehmen, sie hätte auf mich gewartet?
    »Ma’am?«
    Ich blickte auf.
    »Alles in Ordnung, Ma’am?«
    Ein Mann von etwa sechzig Jahren, nicht viel älter als mein ältester Sohn, kam auf mich zu. Neben ihm ging eine Frau im selben Alter. Sie trug ein blaues Sommerkleid und das dunkle Haar im Nacken locker zu einem Zopf zusammengebunden.
    »Ja, alles in Ordnung«, erwiderte ich und richtete mich auf.
    »Ich bin Greg, und das ist meine Frau Loraine«, sagte der Mann. »Wir wohnen da hinten am Hang.«
    »Ich bin Anne«, sagte ich. »Anne Call…« Verblüfft über den Versprecher, unterbrach ich mich. Seit Jahrzehnten hieß ich Anne Godfrey, aber hier auf der Insel kam der Name mir plötzlich fremd vor.
    »Anne Calloway«, sagte ich.
    Loraine schaute erst ihren Mann, dann mich an. »Anne Calloway ?«
    »Ja, richtig«, antwortete ich, verwirrt über die merkwür dige Reaktion der Frau. »Sind wir uns vielleicht schon ein mal begegnet?«
    Die Frau schüttelte den Kopf und sah ihren Mann verwundert an. »Nein«, sagte sie und setzte sich neben mich. »Aber wir haben immer gehofft, Sie irgendwann einmal kennenzulernen.«
    »Ich verstehe nicht recht«, sagte ich.
    »Das kann einfach nicht wahr sein«, sagte Loraine zu ihrem Mann, dann schaute sie mich wieder an. »Sie haben im Krieg hier auf der Insel gelebt, nicht wahr?«
    Ich nickte.
    »Hier in der Nähe steht eine alte Strandhütte«, fuhr sie fort. »Die kennen Sie doch, oder?«
    »Ja«, sagte ich. »Aber woher wissen Sie das?«
    Sie warf ihrem Mann einen kurzen Blick zu. »Er hat immer gesagt, Sie würden eines Tages kommen.«
    »Er?«
    »Mr. Green«, sagte sie.
    Ich schüttelte den Kopf und spürte, wie mein Puls schneller wurde. »Ich verstehe das nicht. Sie kennen die Hütte? Und … Westry?«
    Die Frau nickte, und ihr Mann zeigte auf die Bäume hinter mir.
    »Die Hütte steht dort drüben, in der Nähe unseres Hauses«, sagte er. »Das Unterholz ist ziemlich dicht geworden, seit Sie hier waren, Sie haben sie wahrscheinlich übersehen.«
    Ich sprang auf. Meine Beine waren ganz steif und erinnerten mich daran, dass ich keine zweiundzwanzig mehr war. »Würden Sie mich hinführen?«
    »Natürlich«, sagte er lächelnd.
    Ein paar Minuten gingen wir schweigend nebeneinander her. Hin und wieder sahen die beiden mich besorgt an, aber ich erwiderte ihren Blick nicht, sondern lauschte auf das Meeresrauschen und hing meinen Gedanken nach. Wollte ich wirklich wissen, was sie mir über die Hütte und über Westry erzählen konnten?
    Plötzlich blieb Greg stehen und zeigte in den dichten Dschungel hinein. »Da«, sagte er.
    »Danke«, sagte ich und mühte mich durch das Gestrüpp, bis ich an eine kleine Lichtung kam.
    »Moment noch, warten Sie, Ms. Calloway«, rief Greg hinter mir her.
    Ich drehte mich um.
    »Sie sollten wissen, dass die Hütte nicht mehr ist, was sie einmal war.«
    Ich nickte und ging weiter, zwängte mich durch das Dickicht aus Schlingpflanzen, die ihre Arme nach mir auszustrecken schienen. Ich schaute mich um. Wo war die Hütte? Dann fiel mein Blick auf einen großen Hibiskusstrauch. Die Blüten waren noch nicht aufgegangen, aber man konnte gelbe Knospen zwischen dem grünen Laub erkennen. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Sie musste ganz in der Nähe sein.
    Ich schob eine Ranke aus dem Weg. Und da war sie – sie stand noch. Das strohgedeckte Dach war teilweise eingefallen. Die geflochtenen Wände waren ausgedünnt, eine Außenwand fehlte ganz, und die Eingangstür war verschwunden. Ich holte tief Luft und dachte daran, wie Westry und ich die Hütte vor so vielen Jahren entdeckt hatten.
    Die einzelne Treppenstufe war zerbröckelt, sodass ich nur mühsam über die Türschwelle steigen konnte. Es war so anstrengend, dass mir die Arme wehtaten. Ein Vogel, den ich aufgeschreckt hatte, flog krächzend aus dem Fenster der Hütte.
    Ich klopfte mir den Sand von der Hose und sah mich staunend um. Das Bett mit der alten Tagesdecke, der Maha gonischreibtisch samt Stuhl, die Vorhänge, die ich genäht hatte, inzwischen verschossen und in Fetzen – es war alles noch da. Ich betrachtete die Wand, an der das Gemälde gehangen hatte. Ob es immer noch unter dem Bett lag, eingewickelt in das Stück Sackleinen?
    Ich machte mich auf alles gefasst. Dann kniete ich mich vor das Bett und tastete darunter nach dem Bild.

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