Einem Tag mit dir
während ich mich im Flugzeug umsah, in dem viele junge Paare saßen, wahrscheinlich auf Hochzeitsreise. Ein junger Mann in der Reihe rechts von uns streichelte seiner frisch Angetrauten liebevoll übers Haar und küsste ihre Hand, während er aus dem Fenster auf die Insel hinunterschaute. Ich beneidete die beiden. Was für ein Glück sie hatten, die Insel unter so glücklichen Umständen kennenzulernen anstatt in Kriegs zeiten. In dem Moment wünschte ich, ich wäre wieder zweiundzwanzig und könnte noch einmal von vorne anfangen, mit Westry an meiner Seite.
»Gehen wir?« Jennifer riss mich aus meinen Gedanken. Das Flugzeug war gelandet. Ich stand auf und folgte meiner Enkelin zum Ausgang, wo die ersten Passagiere die Gangway hinunterstiegen.
Eine Stewardess steckte mir eine Orchidee an den Kragen, die so tiefrot war, dass ich mich fragte, ob sie künstlich gefärbt war. »Willkommen auf Bora-Bora, Ma’am«, sagte sie. »Die Insel wird Ihnen gefallen.«
»Die Insel hat mir vom ersten Tag an gefallen«, erwiderte ich und atmete die warme, feuchte Luft ein. Wo vor siebzig Jahren nur eine einzige Start- und Landebahn ge wesen war, befand sich jetzt ein verkehrsreicher Flug hafen. An den grünen Hängen standen Häuser zwischen den Bäumen. Alles hatte sich verändert, aber die Luft duftete immer noch nach Blumen, und das Meer glitzerte genauso türkisfarben wie früher. Und da wusste ich: Mein Herz war auf dieser Insel zu Hause.
»Nimm meine Hand, Grandma«, sagte Jennifer.
Ich schüttelte den Kopf. So kräftig hatte ich mich seit Jahren nicht mehr gefühlt. »Ich schaffe das«, sagte ich und ging langsam die Stufen hinunter. Ja , sagte ich mir, ich schaffe das .
Ein Shuttlebus brachte uns zu unserem Hotel, das nur knapp zwei Kilometer vom Flughafen entfernt lag. Jennifer öffnete unsere Tür mit der Schlüsselkarte, und wir stellten unsere Taschen in dem klimatisierten Zimmer ab.
»Schau dir bloß mal diese Aussicht an!«, rief Jennifer aus. Eine gläserne Verandatür führte auf einen Balkon, von dem aus man einen atemberaubenden Blick auf den Strand und das Meer hatte.
Wir traten näher an die Balkontür, und da entdeckte ich etwas Vertrautes.
»Mein Gott«, murmelte ich. »Diese Dünen … das ist ja unglaublich.«
»Was meinst du damit?«, fragte Jennifer.
»Also, vielleicht irre ich mich ja, aber ich glaube, das Hotel steht genau an der Stelle, wo sich früher das Camp befand!«, sagte ich. »Ich kenne diesen Strand, diese sanft geschwungene Bucht. Dieses Felsenriff unter der glitzernden Wasseroberfläche.« Mir war, als könnte jeden Augenblick Schwester Hildebrand dort unten am Strand auftauchen, oder Kitty – oder Westry. Ich schüttelte seufzend den Kopf. »Wieder hier zu sein … es ist so …« Ich öffnete die Tür und trat auf den Balkon hinaus. Jennifer folgte mir nicht.
»Lass dir Zeit, Grandma«, sagte sie. »Ich warte hier drinnen.«
Ich setzte mich in einen Korbsessel und ließ mich von den vertrauten Wellen in ihren Bann ziehen.
Als ich eine Stunde später ins Zimmer ging, lag Jennifer schlafend auf dem Bett. Ich nahm eine Decke aus dem Schrank und legte sie ihr vorsichtig über. Dann setzte ich mich an den Schreibtisch und schrieb ihr eine Nachricht. Ich wusste genau, wohin ich musste.
Liebe Jennifer,
ich mache einen kleinen Spaziergang. Ich wollte Dich nicht wecken. Bis zum Abendessen bin ich wieder rechtzeitig zurück.
Grandma
Ich setzte meinen Strohhut auf und verließ das Hotel. Ich ging am Swimmingpool vorbei, wo Frauen in Bikinis in der Sonne lagen, an der Bar, wo Paare an Cocktails nippten, und hinaus an den Strand, der, abgesehen davon, dass jetzt hier und da ein paar Häuser standen, genauso still und sauber war wie vor siebzig Jahren.
Es war, als wäre ich wieder zweiundzwanzig, eine junge Krankenschwester, die sich nach einer langen Schicht im Lazarett zum Strand schlich, sich vergewisserte, dass ihr niemand folgte, mit klopfendem Herzen vor lauter Vorfreude auf ihn .
Der Sand unter meinen Füßen fühlte sich heiß an. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und zog meinen Hut tiefer ins Gesicht zum Schutz gegen die unbarmherzig grelle Sonne. Ich suchte das von Palmen gesäumte Ufer mit den Augen ab. Wo war die Hütte? Sie konnte eigentlich nicht mehr weit sein.
Vögel kreischten über mir, während ich weiterging und in den Dschungel spähte. Sie musste ganz in der Nähe sein. Irgendwo hier.
Zwanzig Minuten später blieb ich atemlos stehen und setzte mich an
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