Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Titel: Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi , Stephanie Gleißner
Vom Netzwerk:
zu Johanna um, erwarte ihr Schmunzeln, wie früher, doch sie schaut nicht hoch, sagt über die Schublade gebeugt: »Auf Wiedersehen, Frau Murr.«
    Dann stehe ich auf der Straße wie nach einem Unfall, mit offenem Mantel und einer Handtasche, aus der Papiere in alle Richtungen quellen. Ihr schlechtsitzender Anzug hatte geglänzt, Synthetik, ihr Gesicht, als hätte lange ein Stein daraufgelegen, war ausgebleicht und aufgeschwemmt, ihr Haar, das ich für unzerstörbar gehalten hatte, klebte an diesem Gesichtskrater wie ein Büschel welker Wiesenblumen. Das Schildchen auf ihrer Brust behauptete: »Freundlichkeit hat einen Namen: Johanna Luger.«
    Ein junger Mann habe angerufen, sagt meine Mutter, er habe versucht, mich auf dem Handy zu erreichen, er habe sich Sorgen gemacht, ich solle ihn doch zurückrufen.
    »Ein netter, junger Mann«, sagt sie.
    »Der ist alles andere als nett«, sage ich und hoffe,dass sie weiter nachfragt und ich ihr alles erzählen kann. Doch sie fragt nicht nach, schaut mich nur kurz an. Ihr Blick bedeutet: Du wirst schon was machen, aber halt mich da raus. Ich sage noch mal: »Nein, nett ist der wirklich nicht«, und schaue sie herausfordernd an. Ich flehe ja schon fast, denke ich beschämt. Sie drückt einen angefaulten Apfel in den vollen Kompostkübel.
    Abends rufe ich Frank an. Ich sage ihm, dass ich nur anrufe, um zu verhindern, dass er nochmals bei meinen Eltern anruft. Frank ist so froh, dass ich mich melde, dass er gar nicht hört, was ich sage, sondern mir gleich alle Neuigkeiten aus seinem Leben erzählt. Er habe nicht gedacht, dass Zorah so kindisch sei, empört er sich, kindisch sei das falsche Wort, egoistisch sei sie, sich so aufzuführen, wo er doch jetzt alle Hände voll zu tun habe mit dem Projekt. Er schimpft noch eine Zeitlang vor sich hin, wird dann ruhiger, sagt, dass er froh sei, dass er mich habe, dass wir beide jetzt zusammenhalten müssten. Als ich ihm erkläre, dass ich nicht mitkommen werde nach Timbuktu, schreit er: »Das ist doch nicht dein Ernst. Bist du jetzt auch übergeschnappt!« Er hat sich schnell wieder unter Kontrolle und spricht, als müsse er ein Kind einschläfern. »Ich weiß doch, dass das nicht einfach für dich war die letzten Monate. Das ganze Hin und Her mit Zorah … Das ist jetzt vorbei.«
    »Darum geht es nicht«, sage ich, »es ist mir egal, ob du mit Zorah zusammen bist oder nicht. Ich will einfach nur meine Ruhe. Ich werde kündigen.«
    »Hör zu, wir machen das jetzt so: Ich fahr zu dir, hol dich ab, lerne deine Eltern kennen. Wir reden in Ruhe über alles.«
    Ich unterbreche ihn: »Nein, so machen wir das nicht«, und lege auf.
    In dieser Nacht kann ich nicht schlafen. Ich denke an Johanna, die mich nicht mehr duzen möchte, die mich mit »Frau Murr« anspricht, die mit Herrn Grasleitner ein Büro teilt, die sich mit ihm versteht, die ganz sicher wirkt über ihren Pappdossiers und mit der farbigen Thermoskanne neben sich. Wir haben Schaden genommen. Ich frage mich, wann es angefangen hat.

7.
    Die engagierten Deutsch-, Englisch-, Kunst- und Musiklehrer hatten Johanna immer eine besondere Zuneigung entgegengebracht. Diese Sympathie war nur schwer greifbar, sie äußerte sich nicht in Worten. Dennoch spürte jeder, dass sie in Johanna etwas sahen, das sie in uns anderen Schülern nicht sahen. Bei Tests und Schulaufgaben, wenn unsere Köpfe beinahe das Papier berührten, auf das wir kritzelten,ruhte der Blick der Lehrer oft lange auf Johanna, so dass wir anderen ungestört voneinander abschreiben konnten. Sie saß mit vorbildlich geradem Rücken da, ihre Zungenspitze lugte zwischen den zusammengepressten Lippen hervor, während sie auf einem losen Blatt komplizierte Gliederungsskizzen entwarf, die sie so viel Zeit kosteten, dass sie mit der Ausführung und Reinschrift dieser Skizzen nur selten fertig wurde. Die Lehrer betrachteten Johanna bei solchen Gelegenheiten mit einer Mischung aus Sorge und Rührung. Johanna, das sahen die engagierten Deutsch-, Kunst- und Musiklehrer auf den ersten Blick, war begabt und gefährdet. Auch sich selbst hatten sie einmal für begabt und gefährdet gehalten. Jetzt waren sie nicht mehr begabt und auch nicht gefährdet, jetzt waren sie verbeamtet und verstrahlten die begabt-gefährdete Jugend mit wehmütigem Lächeln, das präventiv sämtliche Ikarusflügel einschmolz.
    Als Johanna nach den Sommerferien nicht wieder zurück in die Schule gekommen war, hatten die Lehrer mir mit ihren Fragen zugesetzt. Sie nahmen

Weitere Kostenlose Bücher