Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)
mich nach der Stunde beim Hinausgehen zur Seite. »Ist etwas passiert?«, fragten sie, und als mir selbst der durchdringende Blick, den sie dieser Frage für gewöhnlich hinterherschickten, keine Geständnisse entlockte, schoben sie ein »Du bist doch ihre Freundin« hinterher und schauten dann gespannt, so alsmüsste dieses Wort sämtliche Glocken zum Läuten bringen.
Doch ich war nicht mehr ihre Freundin. Ich hatte den Großteil der Sommerferien allein verbracht. Ich war allein, den Rucksack voller Schulbücher, an unsere Plätze im Wald zurückgekehrt. Meine Noten hatten sich verschlechtert im vergangenen Jahr, ich hatte vieles nachzuholen. Es war mir tatsächlich egal, was Johanna machte und warum sie etwas machte oder nicht machte. Auch als die Lehrer endlich in Erfahrung brachten, dass sie eine Lehre begonnen hatte, also kein Abitur machen würde, ließen sie nicht locker. Sie fragten, ob dieser Entschluss denn wirklich von Johanna ausgegangen sei, das könne man sich nämlich nur schwer vorstellen. Sie sei doch so begabt und engagiert. Erst als ich ihnen erklärte, dass ich nicht die geringste Ahnung über Johannas Verbleib und Beweggründe für ihren Entschluss hätte und dass es ihnen darüber hinaus auch nicht zustehe, mich auszuhorchen, ließen sie von mir ab.
Auch die Alten auf den Bänken schüttelten zunächst die Köpfe über Johannas vorzeitigen Abgang. Doch ihr Vertrauen in die eigenen Einfälle, Vermutungen und Erklärungsversuche war, anders als das der Lehrer, ungebrochen. Für sie lag die Sache auf der Hand: Johanna habe am Vorbild der Mutter gesehen, was es heiße und wohin es führe, so spinnert und extravagant zu sein, und habe daraufhin den kopflastigenKurs, den sie bereits in der dritten Klasse mit dem Sieg beim Landesvorlesewettbewerb eingeschlagen hatte, korrigiert und sich für etwas Praktisches entschieden. Natürlich hatte es ihnen damals, als sie den Landesvorlesewettbewerb gewann, gefallen, den Namen ihres Hinterlands in einer großen Zeitung zu lesen. Doch sie besaßen auch die Fähigkeit, über ihre Eitelkeit hinaus auf das Wohl Johannas zu blicken, und was sie dann sahen, bewog sie zu dem Urteil, dass Johanna bei der Krankenkasse gut aufgehoben sei, dass ein Studium ihre spinnerten Anteile, für die sie ja nichts könne, nur noch stärker befördert hätte. Ich war erleichtert, dass sie sich der Sache annahmen, dass sie Erklärungen suchten, sich zuständig fühlten, während mir Johanna bereits gleichgültig geworden war. Sie würde hierbleiben, doch ich musste das Hinterland verlassen. Ich war im Aufbruch.
Ich überzeugte meine Eltern von der Notwendigkeit eines Studiums. Ich lernte. Ich tauchte unter, verzichtete auf Gemeinschaft, verzichtete auf alles, was mich hätte ablenken können. Das Studium war mein gelobtes Land, in das ich einziehen würde mit Feuerflügeln, die Bücher in den Staatsbibliotheken waren mein Manna und die Trägheit des Hinterlands meine Versuchung, der es zu widerstehen galt.
Das gelobte Land enttäuschte. Nichts hatte sich geändert: Ich war gierig, die anderen satt. Sie saßen in Cafeterien, tranken Pulverchococino und diskutiertendie Ereignisse des Wochenendes. Die Mädchen pickten auf ihren Themen herum wie Hühner auf Körnern, lustlos, nur wenige Minuten, dann ließen sie sie wieder fallen, stürmten jedoch, sobald sie bemerkten, dass eine andere an einem Korn Interesse fand, wieder los und pickten es ihr vor der Nase weg, um es gleich darauf wieder fallenzulassen. Dann kam der Sommer, immer öfter ließen sie Vorlesungen und Seminare ausfallen, lagen im Freibad oder im Park, während ich mich in der Institutsbibliothek über die Bücher beugte. Anfangs hatte ich mich ihnen angeschlossen, hatte dabeigesessen in den Cafeterien, hatte geschwiegen und versucht, mir meinen Ekel, für den ich mich selbst schämte, nicht anmerken zu lassen. Als sie anfingen, mich tatsächlich zu mögen, mich zu WG-Feiern einzuladen und mir in Vorlesungen einen Platz freizuhalten, hielt ich es nicht mehr aus.
Ich fiel zurück in die Gewohnheiten des Hinterlands, zog aus der WG aus und mietete mir eine kleine Wohnung in einem der umliegenden Dörfer. Jeden
Morgen radelte ich zwanzig Kilometer zur Universität. Um acht betrat ich entweder die Bibliothek, einen Vorlesungssaal oder einen Seminarraum. Ich lernte
Latein, Griechisch und Hebräisch. Ich besuchte eine Einführung in die Volkswirtschaft, belegte ein Seminar zum Thema Geld, eines zu Hygiene und Ritus, ein
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