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Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Titel: Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi , Stephanie Gleißner
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kriegen können, die keinen Überblick haben, kein Maß kennen.

14.
    Erst hinterher bemerkte ich, dass er nicht gestottert hatte. Er hatte Jeans und Hemdsärmel hochgekrempelt, auf seinen Händen und Armen waren ausgeblichene Ölspuren, er deutete mit dem Kopf auf die Zigarettenschachtel in meiner Hand. Ich reichte ihm eine. Er fragte, wo Johanna sei.
    »Zu Hause, wo sonst?«, antwortete ich.
    Er sagte nichts mehr, ging aber auch nicht weg. Während er inhalierte, schaute er über meine Schulter hinweg auf die Fassade der Pension Malinowski. Er blies den Rauch durch die Nase aus, was möglicherweise verwegen aussah, mich jedoch aufregte und verunsicherte, denn er schaute dabei auf den Boden oder schräg zur Seite, er verrenkte sich regelrecht den Hals, alles nur, um meinem Blick auszuweichen. Karl Rieder hatte nicht nur der Sprache entsagt, sondern der Mimik gleich mit. Er sagte nichts, er zeigte nichts, er stand einfach nur da. Schon nach wenigen Sekunden hatte mich seine Gegenwart so gegen ihn aufgebracht, dass ich die Zigarette, die ich gerade erst angezündet hatte, auf den Boden warf und mich abwandte, um zu gehen. Es war eine Zumutung, wie er dastand und einen anstarrte. Wie eines dieser abstrakten Kunstwerke, nach allen Seiten hin verschlossen, seine Selbstgenügsamkeit zur Schau stellend. Man sollte die Worte, die er nicht sprach, und dieMimik, zu der er sich nicht herabließ, für ihn finden. Verlogen, dachte ich, eine Nötigung, sich mit ihm zu beschäftigen. Er griff nach meiner Hand.
    »Komm!«, sagte er.
    Es klang wie ein Befehl. Er zog mich an der Hausmauer entlang zum Hintereingang der Pension Malinowski. Er ließ meine Hand erst los, als wir im Flur standen und er die Tür hinter uns geschlossen hatte.
    Aus dem hinteren Teil des Hauses drangen von schweren Teppichböden und Vorhängen gedämpfte Geräusche, das Klirren von Gläsern, Stimmen, die einander ablösten, sich nicht vermischten, hin und wieder ein träges Lachen, ein schnaubendes Aufatmen, das Knarzen der Möbel und das Aufblähen von Polstern, wenn man sich auf ihnen bewegte. Nach einigen Sekunden hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Aus Regalen und Vitrinen quollen Geschmacklosigkeiten: Lebkuchenherzen, Teddybären mit leuchtenden Bäuchen, rosa lackierte und glitzerbestäubte Muscheln. Ein kleiner Buddha, Plastikeinhörner und Teelichthalter standen neben dem Kleinen Arschloch und einer Disney-Meerjungfrau. Ich hätte die Sammlung gern genauer betrachtet, doch Karl Rieder drängte vorwärts. Er wartete ungeduldig auf der Treppe, die ins erste Stockwerk führte. Die Stufen waren steil und schmal, ich musste mich konzentrieren, um nicht danebenzutreten. Im ersten Stock war es noch dunkler als im Eingangsbereich.Vergeblich tastete ich die Wand nach einem Lichtschalter ab, weder Bärenbäuche noch Lichterketten wiesen den Weg. Undeutlich erkannte ich einen schmalen Flur, von dem in kurzen Abständen zu beiden Seiten Türen abgingen. Einige standen einen Spaltbreit offen und ließen Lichtkegel auf den Teppichboden fallen. Nach hinten wurde das Licht spärlicher, das Ende des Flurs ließ sich nicht mehr ausmachen. Karl Rieder war verschwunden. Ich suchte ihn. Ich tat das Naheliegende.
    Die meisten hatten versucht, Ordnung zu halten. Sie hatten sich sorgfältig ausgezogen, ihre Kleider gefaltet und auf den Stühlen neben den Betten abgelegt. Auf den Alltagskleidern, den Kleidern, in denen sie: »Darf’s sonst noch was sein?«, oder: »Lassen Sie sich das noch mal in Ruhe durch den Kopf gehen«, sagten, lag ihre Unterwäsche. Leopardenmuster, rote Spitze, Strasssteinchen und Schleifen. Auch die Tagesdecke hatten sie noch sorgfältig zurückgeschlagen. Die Unordnung begann bei den Kissen und Decken. Sie hatten sie von sich weggestrampelt, jetzt lagen sie zerknüllt am Bettende oder auf dem Boden. Sie selbst lagen nackt, voneinander abgewandt, zurückgezogen auf je einer Hälfte des Bettes, lagen auf dem Bauch oder auf der Seite.
    Manche hatten die Beine auseinandergerissen wie gestopfte Gänse, andere hielten sich selbst fest, schlangen einen Arm um ein angezogenes Knie oderbeide Arme um den Oberkörper. Erschöpft und in sich gekehrt dämmerten sie vor sich hin. Wenn sie meine Anwesenheit bemerkten, zuckten ihre Mundwinkel oder die Augenbraue, mehr nicht. Das Geräusch ihres Atems, tief und laut wie bei Säuglingen, hatte etwas Hypnotisches, die abgestandene Luft tat ihr Übriges.
    Ich trat über Türschwellen, stand vor Betten

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