Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)
und besah ihre Haut. Es war nicht leicht, sich auf diesen fremden, verrenkten Körpern zurechtzufinden. Aus alter Gewohnheit untersuchte ich zuerst Hand- und Fußgelenke, Kniekehlen und die Übergänge zwischen den Extremitäten – die Stellen, an denen auf meinem Körper Ekzeme und Flechten wucherten, waren bei ihnen unversehrt. Aber sie hatten andere Male. Blutergüsse, Quetschungen, blaue Flecken, eingewachsene Körperhaare, aufgekratzte Pusteln, entzündete Pickelchen zwischen Schulterblättern, die Spuren der Alltagskleidung, die sie täglich verletzte, Hosenbünde und Gürtel, die die zarte Haut am Steiß wundrieben, Sterlingknöpfe, die sich beim Sitzen in ihre Bauchnabel drückten. Um die Taillen der Frauen zogen sich dünne rote Riemen – Hinterlassenschaften der billigen Nylonstrumpfhosen, mit denen sie sich die langen Winter hindurch selbst strangulierten. Ich beugte mich über ihre Fußgelenke und sah die kaum mehr sichtbaren Abdrücke, die die Bündchen ihrer Socken hinterlassen hatten. Ichberührte ihre Haut, meine Finger fuhren behutsam über die wunden Stellen, ich legte meinen Kopf in die Kuhlen über ihren Steißen, die sich gleichmäßig mit dem Auf und Ab ihrer Bäuche hoben und senkten, ich roch ihren angetrockneten Schweiß und spürte den Luftzug, der ihnen die Körperhärchen aufstellte. Ich befühlte die kleinen Wunden, die leichten Erhebungen der verblassenden Striemen, besah die Muttermale und erweiterten Poren, in denen sich Talg sammelte, und legte mein heißes Gesicht darauf. Meine Scham verwandelte sich in ein warmes Gefühl.
Ich ging von Zimmer zu Zimmer, legte mein Gesicht und meine Hände auf alle Körper. Wenn ich die Augen öffnete und den Kopf hob, sah ich Heiligenbilder über den Betten. Einmal und für kurze Zeit verstand ich, was es mit ihnen auf sich hatte. Ich spürte, dass es möglich war, diese Menschen mit ihrer kaputten Haut zu lieben, es war möglich, solange sie hier lagen, ihre Alltagskleider neben sich, schweigend und erschöpft. Nie wieder habe ich so eine Zärtlichkeit empfunden wie an jenem Morgen bei den Körpern in der Pension Malinowski, nie wieder bin ich den Heiligen und Märtyrern so nahe gekommen. Am Ende des Flurs erwartete mich, an einen Türrahmen gelehnt, Karl Rieder. Wieder nahm er meine Hand und führte mich zurück ins Parterre.
Die Malinowski hatte die Mauer zwischen den beiden Zimmern im Erdgeschoss durchbrechen lassenund so aus zweien eins gemacht, in das man durch einen langen Einbauküchenschlauch gelangte. Der hintere Teil des Zimmers war komplett gekachelt und mit Plastikplane ausgelegt, die wiederum mit Schichten von Blumenerde und Baumrinde bedeckt war. Aus Tontrögen wuchsen baumartige Tropengewächse. An ihren Stämmen kletterten blühende Ranken, die sich in den Farnen verfingen, die aus den an der Decke befestigten Bastkörben wucherten. Der Rasensprenkler, die unverkleideten Heizstrahler, aber vor allem die um die Tröge herum aufgestellten Plastikfiguren und andere Nippes, wie ich sie schon in den Regalen im Eingangsflur gesehen hatte, zerstörten die Urwaldillusion, noch bevor sie richtig entstehen konnte. Karl Rieder lotste mich auf einem Trampelpfad zwischen den Trögen und Körben hindurch in den vorderen Teil des Zimmers. Im Gegensatz zu den Sportbuben, die sich noch nicht an ihre Körperkraft gewöhnt hatten und sie dann, selbst überrascht, unbeholfen und etwas hölzern in ihren Bewegungen ausbremsten, waren Karl Rieders Bewegung geschmeidig und sicher. In seinem ausrasierten Nacken stand der Schweiß. Ich wunderte mich nicht über die Ereignisse und Beobachtungen dieses Morgens, ich wunderte mich über Karl Rieder. Es war absurd, dass ausgerechnet er, der so wenig damit anzufangen wusste, so schön war.
Im vorderen Teil des Zimmers fläzten sich in Rattansesselnder Supermarktfilialleiter, führende Schreiner und Tischler, Metzger und Klempner, der Trachtenschneider, der Juniorchef des Sägewerks, eine Handvoll Wirte, aber auch die Intelligenzija des Hinterlands; Gemeindebeamte und Lehrer. In offenen oder nur nachlässig geschlossenen Bademänteln saßen sie da, ihre festen Bäuche lagen auf den mageren Oberschenkeln auf. Wenn sie sich zurücklehnten, lugte der schrumplige Wurmfortsatz ihres Geschlechts hervor. Stumpf glotzten sie durch die verglaste Schiebetür ins Freie. Dort lag der wirkliche Dschungel; der verwahrloste Garten der Malinowski, dessen ungenutztes Potential Bestandteil vieler Gespräche der Alten auf den
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