Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Titel: Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi , Stephanie Gleißner
Vom Netzwerk:
Ort, den die Katzen aus der Nachbarschaft zum Scheißen aufsuchten. Es war kein Ort zum Verweilen. Herr Luger jedoch bog unbeirrt die schlanken Ahornstämme zurück und stellte sich zwischen sie. Wenn er sich bewegte, schleuderte der Stamm, den er nach hinten gedrückt hatte, zurück und peitschte seinen Rücken. Herr Luger stand lange reglos zwischen diesen Stauden. Erglich sich ihnen an, wurde unsichtbar. Nur der Rauch seiner Zigaretten, die dunkel zwischen dem hellen Grün und Braun der Stämme glimmten, verriet ihn noch.
    Im vorderen Teil des Gartens machte sich Frau Luger an ihren Beeten zu schaffen. Wenn man ihre Arbeit über einen längeren Zeitraum mitverfolgte, wenn man registrierte, was sie wann wohin pflanzte, war es nicht verwunderlich, dass in diesen Blumenbeeten kaum etwas blühte. Das Leben der Pflanzen, ihre Bedürfnisse und Abneigungen tangierten Frau Luger nicht. An einem Tag pflanzte sie ein, am nächsten riss sie die Setzlinge, die sie in Blumentöpfen hochgezogen hatte, wieder heraus. Sie hatte die Ärmel hochgekrempelt, ihre Ellbogen stießen vor Kraftanstrengung weit zurück, auf ihrer Bluse bildeten sich Schweißflecken. Am Ende eines solchen Gartentages lagen die ausgerissenen Setzlinge wie abgeschlagene Köpfe in Reih und Glied am Rand der Blumenbeete. Frau Luger erhob sich, wuchtig und breitbeinig. Sie schüttelte den Kopf. Doch schon auf dem kurzen Weg zurück ins Haus mischte sich in ihren erschöpften Gang wieder jene neurotische Eleganz, in die man sich für gewöhnlich verliebte. Wenig später kehrte auch Herr Luger ins Haus zurück. Vor dem Spalier der ausgerissenen Setzlinge blieb er stehen. Er bückte sich, stellte sein noch immer halbvolles Glas auf dem Boden ab und verschränkte danndie Hände auf dem Rücken. Einige Minuten hielt er Andacht, dann war die Choreographie des Nachmittags beendet, und er ging durch die Haustür, die noch immer offen stand.
    Johanna kam nicht mehr mit zum Zeitungsaustragen, um »ihr« nicht zu begegnen. Sie sprach jetzt nur noch von »sie« und »ihr«, wenn es um ihre Mutter ging. Manchmal führte das zu Missverständnissen, weil ich nicht immer gleich verstand, auf wen sich dieses »sie« oder »ihr« bezog, doch wir redeten sowieso nur noch wenig miteinander. Ihre Beschäftigung mit den Heiligen trat in ein neues Stadium: Sie begnügte sich nicht mehr mit Exzerpten und Bildern, sie hatte genug Wissen über die Heiligen und ihre Leben angesammelt, sie war jetzt bereit für die Praxis. Sie würde selbst heilig sein. Sie fastete. Sie schwieg. Sie lief im Wald herum. Die Anfälle von Begeisterung, die ihre verstiegenen Interessen und die Ausschließlichkeit, mit der sie sich ihnen widmete, für mich erträglich machten, wurden seltener und blieben schließlich ganz aus. Zurück blieben eine Ernsthaftigkeit, ein stets gerader Rücken, die leicht schräge Neigung des Kopfes und ein affektierter schwebender Gang.
    Ich beneidete sie um ihre Disziplin, um ihre Fähigkeit, Ideen zu verkörpern. Sie würde es schaffen. Sie würde den Körper überwinden und eine große Heilige werden. Ich wusste auch, dass sie, wenn es so weit war, wenn die Wandlung abgeschlossen seinwürde, uns allen, mir und ihrer Mutter, aber auch den Alten auf den Bänken, den Lehrern, unseren Mitschülern und ihren Eltern vergeben und dass sie auch das wie nebenher mit großer Sanftmut erledigen würde. Doch ich wollte nicht, dass sie mir vergab. Ich hatte gerade begonnen, mich mit meiner Gier abzufinden, mich in meiner Maßlosigkeit einzurichten. Auch ich stand noch am Anfang, doch am Ende würde auch ich über diesen Körper triumphieren. Es fing schon an. Immer öfter wunderte ich mich über die Sprache und die Bedürfnisse dieses Körpers. Ich verwehrte sie ihm nicht, ich gab ihm alles, wonach er verlangte, Essen und Berührung und von Zeit zu Zeit Schmerz. Manchmal spannte ich ihn absichtlich auf die Folter, reizte ihn, ließ ihn aushungern und beobachtete dann die Gier. Irgendwann musste ein großes Lachen kommen, glaubte ich, und die Scham zu Fall bringen. Ich könnte dann nackt vor die Sportbuben treten, ihr Gelächter und ihre Beschimpfungen würden mir nichts mehr ausmachen, sie würden mich nicht mehr erreichen, wie mich überhaupt nichts mehr erreichen würde. Groß und unerreichbar wie ein Säulenheiliger würde ich dann sein. Doch bis dahin musste noch viel geschehen. Ich stand noch ganz am Anfang. Noch gehörte ich zu denen, die wie die Tiere leben, die nehmen, was sie

Weitere Kostenlose Bücher