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Einer kam durch

Titel: Einer kam durch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: von Werra Franz
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verstärkt worden sei. Die Zeitungsausschnitte waren übrigens ihre einzigen ›echten‹ Identitätsnachweise. Es waren die Nummern des ›Daily Telegraph‹ und des ›Daily Mirror‹ vom 21. August 1940 mit Bildern von der Gefangennahme Wilhelms unter der Überschrift ›German Baby-Killer captured‹. Wenn sie in ihrem Räuberzivil aufgegriffen und für Spione oder Saboteure gehalten würden, so waren diese Zeitungsfetzen die einzige Möglichkeit, nachzuweisen, daß sie Kriegsgefangene waren und dem Schutz der Genfer Konvention unterstanden.
    Auch die Weiterfahrt mit dem Omnibus wäre ein Risiko gewesen. Der Arbeiterverkehr war jetzt offenbar vorbei, die Wagen waren verhältnismäßig leer; die Gefahr, in ein Gespräch gezogen zu werden, würde zu groß sein. Deshalb kam ihnen der LKW gerade recht. Wagner drehte sich im Gehen um und winkte mit dem Daumen in Richtung Manchester.
    Der Fahrer hielt an und forderte sie auf, sich zu ihm zu setzen. Seine Kabine war geheizt, er war allein und freute sich, für die langweilige Fahrt durch das Hügelland Gesellschaft gefunden zu haben.
    »Kommt beide rein! Is' Platz genug!« versicherte er.
    In diesem Augenblick machte Leutnant Wagner einen verhängnisvollen Fehler. Er fürchtete, der Fahrer würde bei den mangelhaften Sprachkenntnissen seines Freundes Wilhelm bald Verdacht schöpfen.
    »Können wir uns nicht hinten unter die Plane legen? Wir sind verdammt müde!«
    Der Fahrer sah ihn an, als ob er an seinem Verstand zweifelte. Bei dieser Morgenkälte freiwillig auf einem offenen LKW fahren, wenn einem ein Sitz im Führerhaus angeboten war – das mochte verstehen, wer wollte.
    »Wo wollt ihr denn überhaupt hin?« erkundigte er sich schon wesentlich weniger höflich.
    »Manchester. Wir haben ein paar Tage Weihnachtsurlaub.«
    »Urlaub? Seid ihr Soldaten?«
    »Ja.«
    Der Fahrer warf einen mitleidigen Blick auf die beiden Gestalten, deutete nach hinten und zog die Tür wieder zu.
    Sie stiegen auf und der Wagen fuhr an.
    Sie kauerten unter der offenen Plane, rauchten eine Zigarette und begannen wieder zu frieren. Der Fahrer saß vorn, fror nicht und dachte über seine beiden Passagiere nach.
    Zuerst war er einfach beleidigt gewesen. Denen war es wohl zu unbequem, sich mit ihm in dem engen Führerhaus zusammenzudrängen! Aber je länger er nachdachte, desto misstrauischer wurde er. Nee, sagte er sich, bequem ist das da hinten ja nun auch nicht gerade. Und überhaupt, die sehen nicht so aus, als ob sie's immer besonders bequem gehabt hätten. Im Grunde hatten die beiden einen recht schäbigen Eindruck gemacht. Schmutzig, unrasiert, zusammengestoppeltes Zivilzeug am Leib, und nichts auf dem Kopf! Und das wollten Soldaten sein?
    Dreißig Kilometer weiter standen zwei echte Tommies auf der Straße und zeigten mit dem Daumen in Richtung Manchester. Der menschenfreundliche Lastwagenfahrer hielt an. Diese beiden weigerten sich jedenfalls nicht, vorn zu sitzen und ihm die Zeit mit einem Gespräch zu vertreiben. Im Verlauf der Unterhaltung erzählte der Fahrer von den beiden Passagieren, die lieber hinten froren, als vorn warm zu sitzen.
    »Halt mal an«, sagte einer der Soldaten. »Die Vögel will ich mir mal aus der Nähe besehen!«
    Eine Viertelstunde später lieferte der LKW seine Fahrgäste direkt auf der Polizeiwache von Mottram in Cheshire ab.
    Der Polizist war ganz aus dem Häuschen, daß die Weltgeschichte ihre Wellen auf diese Weise bis in seine Wachstube geschlagen hatte. Er war den beiden Deutschen keineswegs böse. Erst mußte seine Frau kommen und sich die Fremden ansehen, dann kamen seine beiden Töchter, zwei niedliche Mädchen mit gedrehten Zöpfen, die eine zwischen sechs und sieben, die andere zehn Jahre alt.
    Als Wilhelm die beiden kleinen Mädchen sah, begann er seine Taschen auszupacken. Wagner folgte seinem Beispiel, und schließlich türmten sich vor den Kindern so viele Tafeln Schokolade auf, wie sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen hatten. Es grenzte ans Wunderbare, wie diese Männer immer neue Schokolade hervorzauberten.
    »Ist ja bald Weihnachten«, sagte Wagner und lächelte süßsauer, »und wir können nun ja doch nichts mehr damit anfangen.«
    Die Frau des Polizisten kochte ihnen eine Portion Reis mit Rosinen, die an das Märchen vom Schlaraffenland erinnerte, und während sie aßen, kamen immer neue Verwandte und Bekannte der Polizistenfamilie, und jeder wollte die ›Jerries‹ sehen, und jeder mußte die Schokolade bewundern – denn

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