Einer kam durch
Dutch! Ich buchstabiere …«
***
Um diese Zeit marschierten Leutnant Wagner und Oberleutnant Wilhelm durch die nordwestlichen Außenbezirke von Sheffield. Die düstere Industriestadt begann sich allmählich in einer gepflegten Parklandschaft zu verlieren. Langsam gewann die Wintersonne an Kraft, das Frösteln der Nacht wich aus ihren Gliedern, ihre Laune war prächtig, sie waren weit genug vom Lager weg, was sollte ihnen jetzt noch passieren!
Dr. Ernst Wagner war Reservist, 33 Jahre alt, im Zivilberuf Rechtsanwalt in Wien. Sein angeborener Charme hatte ihm im Lager viele Freunde gewonnen, für die Flucht aber hatte er sich den um acht Jahre jüngeren Wilhelm als Kameraden gewählt.
Die beiden hatten als einzige unter den fünf Ausbrechern die direkte Hauptstraße nach Norden gewählt. Einen Kompass besaßen sie nicht, von Sternen verstanden sie wenig, sämtliche Ortsschilder und sogar die Aufschriften an den Bahnhöfen waren wegen der Furcht vor einer deutschen Invasion entfernt oder übermalt – beim Querfeldeinlaufen konnte man sich höchstens verirren.
Gegen vier Uhr waren sie zu Fuß nach Chesterfíeld gekommen, das Nest schien völlig ausgestorben zu sein, nur einmal liefen sie einem um die Ecke kommenden Polizisten fast auf den Bauch – aber dem Mann sollte es erst einige Tage später einfallen, daß die beiden ihm gleich verdächtig vorgekommen waren. Am Ortsrand setzten sie sich unter einen Torbogen und warteten.
Sie unterhielten sich nur auf englisch. Wagner sprach es fließend, er war in Kanada und Nordamerika gewesen, und Wilhelm hatte seine Schulkenntnisse während der letzten Wochen soweit aufpoliert, daß er nicht auffallen konnte, solange Wagner das Wort führte.
Gegen vier Uhr fuhr der erste Bus nach Sheffield. Sie stiegen ein. Wagner kaufte die Fahrkarten, auch er wurde gefragt »Single or return?« und er antwortete: »One way«. Das war kein englischer, sondern ein amerikanischer Ausdruck, aber auch der Schaffner gehörte, wie der Polizist, offenbar zu den Spätzündern – als er einige Tage später vernommen wurde, erinnerte er sich sofort an diese ungewöhnliche Ausdrucksweise.
Wenige Minuten nach fünf hatten sie die Stadt erreicht. Sie waren in ein Chaos der Zerstörungen gekommen, denn die ganze Wucht des massierten deutschen Luftangriffs hatte in dieser Nacht Sheffield getroffen. Noch brannten viele Häuser, andere waren in Schutthaufen verwandelt, überall arbeiteten Räumkolonnen, um Menschen aus verschütteten Kellern zu befreien. Der Omnibus hielt in der Vorstadt, hier ging es nicht weiter, auf der Straße war ein riesiges Loch, mit Brettern notdürftig umzäunt, auf denen in Blockbuchstaben stand ›DANGER – UNEXPLODED BOMB‹. Sie mußten sich ihren Weg um den Krater mit dem Blindgänger, über Trümmerberge und durch Seitengassen bahnen, in denen sie sich mehrfach verliefen.
So hatten sie zum ersten Mal den Bombenkrieg gegen Zivilisten erlebt. Nur daß es keine deutschen Frauen und Kinder waren, die da ihre letzte Habe aus den Trümmern zusammensuchten, sondern englische Mütter zwischen englischen Ruinen. Diese Seite des Kriegs hatten sie noch nicht gekannt, und bedrückend überfiel sie die Frage: »Was werden die Menschen, die eben erst durch deutsche Bomber ihre Häuser, ihre Möbel, vielleicht sogar ihre Angehörigen verloren haben – was werden diese Leute tun, wenn sie erfahren, daß wir Offiziere der deutschen Luftwaffe sind?«
Aber die Menschen in Sheffield hatten mit sich selbst und ihren Sorgen genug zu tun, niemand achtete auf die beiden Männer, die froh waren, als sie die Ausfallstraße nach Nordwesten wieder unter ihren Füßen hatten.
Die Stadt lag nun hinter ihnen. Feuer, Rauch, Schutt und die Schilder ›Vorsicht! Blindgänger!‹ hatten sie zurückgelassen. Das bräunliche Grün der Wiesen, das bizarre Astwerk riesiger alter Bäume, durchschienen von der steigenden Sonne, und das mit dem beginnenden Tag neuerwachte Gefühl der Freiheit gab ihnen die alte Unbekümmertheit zurück.
Als sie auf der Straße nach Manchester ein paar Kilometer gegangen waren – Wagner hatte sich an Hand der Tafeln an den Omnibushaltestellen orientiert – näherte sich von Sheffield her ein Lastwagen. Eben hatten sie noch darüber gesprochen, wie sie nun am besten weiterkämen. Mit der Bahn zu fahren, wäre zu gefährlich gewesen; in einem der Zeitungsausschnitte, die Wilhelm in der Tasche trug, hatten sie gelesen, daß der Kontrolldienst auf den Bahnen
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