Einer trage des anderen Schuld
können wir uns nicht sofort stellen. Solange er seine Unschuld beteuert, kann sie ihm nicht den Rücken zukehren, egal, welche Beweise vorliegen. Könnten Sie das bei Ihrem Vater tun?«
»Mein Vater würde …« Er verstummte. Was er hatte sagen wollen, hätte Hesters Einwand nur bestätigt. Sein Vater würde so etwas nie tun? Nein, gewiss nicht. Dann wiederum glaubte Margaret vielleicht mit derselben Leidenschaft an ihren Vater, was auch immer gegen ihn vorliegen mochte. Hester hatte recht: Margaret würde erst Erlösung finden, wenn Ballinger seine Schuld gestand. Aber vielleicht war eine Erlösung nur dann möglich, wenn sie sich von ihrem Vater distanzierte, sich also gewissermaßen selbst verriet. Aber auch in diesem Fall würde sie vielleicht bis zur Selbstzerstörung unter Schuldgefühlen leiden.
Hester lächelte ihn an. »Ich weiß. Ich schätze Ihren Vater, und ich bin sicher, dass er nicht einmal im Traum daran denken würde, Verbrechen wie diese zu begehen. Aber Margaret wird die gleichen Gefühle für ihren Vater haben. Manchmal kennen wir eben nur eine Seite des Menschen, den wir so glühend lieben.«
Darauf fiel Rathbone keine Erwiderung ein.
»Eltern sind ein besonderer Teil dessen, was wir sind.« Hester senkte den Blick. »Ich kann mir immer noch nicht eingestehen, dass mein Vater sich deshalb das Leben genommen hat, weil er gescheitert ist. Manchmal frage ich mich, ob das der Grund ist, warum ich so leidenschaftlich für das kämpfe, woran ich glaube: Weil ich beweisen will, dass ich nicht so bin. Ich gebe nie auf.« Sie sah ihn wieder an. In ihren Augen schimmerten Tränen. »Ich identifiziere mich mit den Soldaten, die ich auf der Krim gepflegt habe, und mache mir vor, ich wäre wie sie, weil ich gesehen habe, wie sie litten. Ich habe sie so sehr für ihre Tapferkeit geliebt.«
Bei ihren Worten begriff Rathbone, dass auch er unter dem Verlust von Illusionen litt, nicht über Ballinger, der ihm nie etwas bedeutet hatte, sondern über Margaret. Vielleicht hatte er erwartet, sie würde mehr wie Hester sein: aufrichtiger in der Auseinandersetzung mit dem Unerträglichen und auf so närrische wie leidenschaftliche Weise tapfer. Dennoch waren es genau diese Eigenschaften, die ihm Furcht vor Hester eingeflößt hatten und sie zu einer für ihn völlig unpassenden Ehefrau machten. Hesters Tugenden hatte er gewollt, aber ohne die Gefahr. Er liebte Margaret, doch nicht mit der verwegenen Inbrunst, die kein Risiko kennt und der kein Preis zu hoch ist.
War er wirklich von Margaret desillusioniert? Oder eher von sich selbst?
»Sie will, dass ich Widerspruch einlege«, sagte er, die Szene so lebhaft vor Augen, wie sie sich zwei Tage zuvor abgespielt hatte. Sie hatten im Salon gestanden, draußen war die Abenddämmerung hereingebrochen, und die Gaslampen brannten bereits, aber die Vorhänge vor dem Fenster zum Garten waren noch nicht zugezogen. Margaret war ganz in Dunkelgrau gekleidet, als wäre sie schon bereit, Trauer zu tragen, und aus ihrem Gesicht war jede Farbe gewichen. Sie zitterte vor Zorn.
Hester riss ihn aus seinen Gedanken. »Haben Sie das vor? Haben Sie irgendwelche Gründe? Hat Winchester einen Fehler gemacht?«
»Nein«, antwortete er schlicht.
Sie schluckte und räusperte sich. »Haben Sie einen gemacht?«
»Meines Wissens nicht. In taktischer Hinsicht vielleicht. Wenn ich mich noch mehr bemüht hätte, hätte ich Arthur davon abbringen können, selbst in den Zeugenstand zu treten, aber er hielt eisern daran fest. Ich glaube nicht, dass man es einem Menschen verwehren kann, das Wort zu seiner eigenen Verteidigung zu ergreifen, nachdem man ihn vor den Gefahren gewarnt hat und er trotzdem darauf besteht. Aber vielleicht hätte ich mir irgendetwas einfallen lassen sollen.«
»Man kann einen Prozess nicht ewig neu aufrollen, bis man endlich das Urteil hat, das man will«, gab sie zu bedenken.
Er senkte die Augen auf die Tischplatte. Ihm war klar, dass er nicht sagen sollte, was ihm auf der Zunge lag, doch die Worte purzelten von selbst heraus.
»Margaret meint, ich hätte irgendeinen Fehler einbauen sollen, damit ich einen Grund zum Widerspruch gehabt hätte. Sie glaubt, meine Karriere wäre mir wichtiger als das Leben ihres Vaters, weil ich von Ehrgeiz zerfressen und im Grunde meines Herzens egoistisch sei.« Er blickte ihr in die Augen. »Ist das wahr? Wenn ich sie mehr geliebt hätte als mich selbst, hätte ich dann so etwas getan?«
»Haben Sie je absichtlich einen Fehler
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