Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
gewesen, und was konnte sie ihm denn schon sagen, das helfen würde? Es gab keine Hilfe. Und doch hatte er nie eine wertvollere Freundschaft erlebt – außer mit seinem Vater.
    »Ich habe ein paar Minuten«, erklärte er dem Diener. »Kommen Sie kurz nach zehn herein, und sagen Sie mir, dass ein Mandant mich dringend sprechen möchte.«
    »Sehr wohl, Sir.« Der Diener zog sich zurück, und gleich danach trat Hester ein. Sie wirkte ruhig und gefasst, war aber immer noch sehr bleich. Sie trug dasselbe blaugraue Kleid, das sie meistens anhatte, aber es stand ihr auch gut.
    Er erhob sich. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte er leise.
    Sie ließ sich auf dem Stuhl gegenüber dem Schreibtisch nieder, als hätte sie vor, länger zu bleiben.
    Auch er setzte sich. Alles andere wäre unhöflich gewesen.
    »Wahrscheinlich nichts«, antwortete sie mit einem hauchdünnen Lächeln. »Ich wollte wissen, ob es irgendetwas gibt, womit ich Ihnen helfen kann. William meint, das wäre nicht möglich, und Sie würden mich wahrscheinlich lieber nicht sehen wollen. Das würde ich gut verstehen. Trotzdem ist es mir lieber, zu kommen und hinauskomplimentiert zu werden, als nicht zu kommen und irgendwann zu erfahren, dass ich sehr wohl etwas hätte tun oder sagen können.«
    »Wie typisch für Sie«, erwiderte er. »Immer handeln, nie zögern und nie aufgeben.«
    Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, ein Moment der Kränkung.
    »Das war ein Kompliment«, sagte er mit einem schiefen Lächeln. »Ich habe in meinem Leben zu viel Zeit damit verbracht, abzuwägen und zu beurteilen und am Ende gar nichts zu tun.«
    »Diesmal nicht«, entgegnete sie. »Sie hätten ja gar nichts tun können. Wenn Rupert nichts gewagt hätte, hätten Sie gewonnen. Ich bin mir nicht sicher, ob das gut gewesen wäre; selbst was Margaret betrifft, langfristig jedenfalls.«
    »Für Monk wäre es schlimm gewesen«, gestand Rathbone freimütig. »Alle hätten dann gesagt, er hätte einen zweiten Fehler begangen und den Falschen verfolgt, nur weil er wegen der Affäre Phillips einen Rachefeldzug gegen Ballinger führte. Es hätte ihn sogar seine Stellung kosten können. Ich bin froh, dass das nicht geschehen ist.« Und zur eigenen Überraschung meinte er das aufrichtig. Er hatte gedacht, die Leere in seinem Inneren sei zu groß, um Gedanken an andere zuzulassen.
    »Das ist wahr, und ich bin Ihnen dankbar dafür«, erwiderte sie mit einem leichten Schulterzucken. »Aber jetzt ist es vorbei. Bei Ihnen auch?«
    »Ich bezweifle, dass ich deswegen Mandanten verliere. Keiner gewinnt jeden Prozess.«
    »Lieber Himmel, das weiß ich doch!«, entfuhr es ihr. »Die meisten wissen genau, dass Sie den Fall nur deshalb übernommen haben, weil Ballinger ein Familienmitglied ist, und dass Sie keine Wahl hatten! Niemand sonst hätte überhaupt eine Verteidigung auf die Füße stellen können. Und Sie hätten auch noch fast gewonnen.«
    Er blickte ihr fest in die Augen. »Hat Monk Rupert Cardew dazu überredet, auszusagen?«
    Sie wich seinem Blick nicht aus. »Nein. Das war ich. Nicht William zuliebe, zumindest nicht ausschließlich. Ich habe es für Scuff getan und für all die Jungen wie ihn.«
    »Das wird diesen Machenschaften aber kein Ende setzen, Hester.« Kaum waren diese Worte über seine Lippen gedrungen, bereute Rathbone sie schon.
    »Ich weiß«, räumte sie leise ein. »Aber wenigstens einem Teil davon. Vielleicht sogar einem recht großen Teil. Zumindest für eine Weile. Die Leute werden wissen, dass wir bereit sind zu kämpfen, und diejenigen, die erwischt werden, werden einen hohen Preis bezahlen. Vor allem aber wird Scuff es wissen.«
    Einen Moment lang brachte Rathbone kein Wort hervor. Seine Kehle war wie zugeschnürt und schmerzte.
    Hester streckte die Hand weit aus und ließ sie auf der Tischplatte liegen. Sie berührte Oliver nicht, aber wenn er seine Hand bewegte, konnte er ihre erreichen.
    »Es tut mir leid, Oliver. Es tut mir wirklich sehr leid.«
    »Ich weiß.«
    Einen langen Augenblick sagte sie nichts mehr.
    Unvermittelt wurde geklopft.
    »Herein!«, rief Rathbone.
    Sein Diener trat ein. »Sir Oliver …«
    »Ah ja«, sagte Rathbone hastig. »Bitte bringen Sie uns Tee und ein paar Kekse, wenn Sie welche finden.«
    »Sehr wohl, Sir.« Der Diener zog sich gehorsam zurück. Seine Miene zeigte Verständnis und vielleicht einen Hauch von Erleichterung.
    Hester lächelte. »Danke. Tee wäre mir sehr recht.«
    Rathbone hatte um Tee gebeten, ohne zu überlegen,

Weitere Kostenlose Bücher