Einer trage des anderen Schuld
gemacht?«, fragte Hester, als grübelte sie noch über diesen Gedanken.
»Nein«, erwiderte er mit einem bitteren Lächeln, »absichtlich nicht. Versehentlich viele. Würde ein Appellationsgericht den Unterschied erkennen?«
»Möglicherweise. Aber müssten Sie nicht hoffnungslos unfähig gewesen sein, damit man Ihnen noch einen zweiten Prozess gewährte? Wie auch immer, was würde ein neuer Prozess Gutes bewirken? Man würde doch nur wieder zur gleichen Entscheidung kommen. Der einzige Unterschied wäre, dass jemand anders Ballinger vertreten würde, wahrscheinlich nicht so gut und garantiert mit weniger Hingabe. Das ist doch nicht vernünftig, Oliver. Und lassen Sie sich auf keinen Streit mit ihr ein. Sie können ihn nicht gewinnen, weil sie nicht zuhört. Sie ist starr vor Entsetzen. Alles, was sie ist und woran sie glaubt, gleitet ihr aus den Händen.«
»Ich bin doch noch da«, erwiderte er schlicht. »Nur will sie mich nicht. Ich habe alles getan, um Ballinger zu retten. Ich bin gescheitert. Aber ich glaube, ich bin deshalb gescheitert, weil er schuldig ist.«
»Sie wird das mit der Zeit begreifen.«
In diesem Moment erkannte er zutiefst erschüttert, dass er sich nicht sicher war, ob er Margaret noch mit der gleichen Zärtlichkeit und dem alten Vertrauen begegnen würde, auch wenn sie schließlich tatsächlich die Wahrheit akzeptierte.
»Sie hat mir eine Bedingung gestellt«, sagte er laut.
»Eine Bedingung? Wofür?«, fragte Hester perplex.
»Wenn ich für ihren Vater nicht erfolgreich in Berufung gehe, wird Margaret mich verlassen und zu ihrer Mutter zurückkehren, um sie zu pflegen.« Nun, da er es gesagt hatte, war es plötzlich Realität, nicht nur ein bedrohlicher Alptraum. Die Atmosphäre bei ihnen im Haus war schon jetzt unerträglich. Sie gingen einander aus dem Weg oder begegneten sich mit eisiger Höflichkeit. Er ging immer möglichst spät zu Bett. Sie schlief dann entweder schon oder stellte sich schlafend. Er legte sich schweigend auf seine Seite. Es war bereits über eine Woche her, dass sie einander zuletzt berührt hatten; nicht einmal die kleinsten Gesten gab es. Das war unendlich viel schlimmer, als allein zu sein.
Hester musterte ihn mit besorgter Miene. »Und wenn Sie eine Möglichkeit fänden, Berufung einzulegen, die Sie natürlich verlieren würden, weil sich an der Beweislage nichts geändert hat, würde sie Ihnen dann vergeben, weil Sie es zumindest versucht hätten?«
Er setzte zu einer Antwort an, merkte dann aber, dass er sie nicht wusste.
»Sie ist in Trauer, Oliver«, fuhr Hester fort. »Ihr Schmerz und ihre Verwirrung sind zu groß, als dass sie vernünftig mit sich reden ließe. Sie will einen Weg vorbei an der Wahrheit. Eines Tages wird zumindest ein Teil ihrer selbst diese akzeptieren müssen, aber im Moment kann sie sich ihr einfach noch nicht stellen. Sie möchte, dass Sie sie davor bewahren, und gibt Ihnen die Schuld, weil Sie das nicht können.«
Rathbone erwiderte verwirrt: »Aber sie ist doch kein Kind mehr! Es lässt sich nun mal nicht ändern, dass sie sich zwischen ihrem Vater und mir entscheiden muss. Und ob schuldig oder nicht, ihre Wahl ist auf ihn gefallen.« Bei diesen Worten fühlte er sich, als hätte er sich tief ins eigene Fleisch geschnitten. » Sie hätten das nicht getan. Sie hätten sich immer für Monk entschieden.«
»Ich weiß nicht, was ich gewählt hätte«, erwiderte sie aufrichtig. »Ich bin nie dazu gezwungen gewesen. Wir alle haben im Innersten einen Impuls, uns für den Verletzbarsten zu entscheiden, denjenigen, der uns am dringendsten braucht, weil wir nicht mit der Schuld, uns von ihm abgewandt zu haben, weiterleben können.«
»Denken Sie dabei an Scuff?«
»Eigentlich nicht. Er würde nie von mir erwarten, dass ich etwas für ihn opfere. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er diesen Gedanken überhaupt verstehen würde, auch wenn er selbst sich, ohne zu zögern, aufopfern würde.«
»Genau das erwartet Margaret von mir. Loyalität, ohne zu zögern.«
»Wenn man jemanden liebt, verlangt man von ihm nicht, dass er das zerstört, was in ihm das Wertvollste ist«, entgegnete sie. »Liebe umfasst auch die Freiheit, seinem eigenen Gewissen zu folgen. Wenn man zu sich selbst nicht wahrhaftig sein kann, bleibt einem nicht mehr viel übrig.« Erneut berührte sie ihn am Arm. »Geben Sie der Versuchung nicht nach, nur weil dann alles für sie kurzfristig leichter wäre. Was sie braucht, ist, dass Sie Ihre inneren Schätze bewahren.
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