Einer trage des anderen Schuld
doch jetzt dämmerte ihm, wie sehr ihm daran gelegen war, dass Hester blieb. Nur war ihm nicht so recht klar, wie er beginnen sollte. Der Schmerz, den ihm seine Verwirrung bereitete, war einfach zu groß. Binnen weniger Monate hatte sich jede Gewissheit, alles, was er mit der Zeit für selbstverständlich gehalten hatte, aufgelöst.
»Wie geht es Margaret?«, fragte Hester mit leiser Stimme. »Ich hatte schon daran gedacht, sie zu besuchen, auch wenn ich nicht wüsste, was ich ihr sagen könnte. Manchmal ist es ja auch schon etwas wert, einfach da zu sein. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie mich empfangen würde. Wir … sind im Streit auseinandergegangen.«
»Das würde sie bestimmt nicht«, bestätigte Rathbone. »Sie gibt Ihnen die Schuld, zumindest teilweise. Jeder hat für sie Schuld, außer ihr Vater. Vor allem aber ich.« Er wusste, dass in seiner Stimme Bitterkeit anklang, aber er konnte sie einfach nicht zurückhalten. Sein Zorn und sein Schmerz erstickten ihn beinahe. Da war es eine Erleichterung, diese Gefühle einfach zeigen zu können. »Sie ist von Ballingers Unschuld überzeugt und sieht hinter dem Ganzen eine ungeheuerliche Verschwörung, angezettelt aus Rachsucht, Feigheit, unangebrachter Loyalität und Unfähigkeit. Und, was mich betrifft, aus beruflichem Ehrgeiz, der mir über die Liebe zu meiner Familie geht.« Er bat Hester förmlich um Widerspruch. Von ihr musste er hören, dass er richtig gehandelt hatte und die Vorwürfe nicht stimmten.
Sie blickte ihn mit gequälter Miene an. »Das tut mir leid«, murmelte sie mit kaum vernehmlicher Stimme.
»Ich habe doch getan, was ich konnte!«, beteuerte er.
»Das weiß ich«, versicherte sie ihm eilig. »Aber der Verlust von Illusionen ist eine der schmerzhaftesten Erfahrungen, die wir im Leben machen. Niemand kann seine Träume loslassen, ohne sich dabei auch selbst zu zerreißen. Es ist, als tötete man ein Stück seiner selbst. Deshalb macht Margaret jeden verantwortlich, der sieht, was zu sehen sie nicht ertragen kann. Und sie lässt keinen Widerspruch an sich heran, weil sie sonst der Wahrheit nicht mehr entrinnen könnte. Egal, ob das unsere Absicht ist oder nicht, wir sind diejenigen, die ihr die Realität aufzwingen.«
»Aber was würde es denn helfen, wenn ich ihr etwas vorlöge?« Rathbone stöhnte. »Jede Hoffnung wäre trügerisch!«
»Hoffnung worauf?«, fragte Hester zurück. »Dass er unschuldig ist, oder darauf, ihn vor dem Galgen zu bewahren?«
Rathbone zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ihn zu retten, nehme ich an. Ich glaube nicht, dass sie sich jemals vor Augen geführt hat, dass er schuldig sein könnte, egal, in welchem Anklagepunkt. Des Mordes an Parfitt, womöglich des Mordes an Hattie oder gar der Erpressung der erbärmlichen Kerle, die das Boot benutzt haben. Würde sie nur einen Teil davon glauben, würde der Rest wohl zwangsläufig folgen. Ich weiß nicht, was ich tun soll oder was ich ihr sagen könnte. Sie behandelt mich, als wäre das Ganze meine Schuld.«
»Das liegt daran, dass Sie der Einzige sind, den keine Schuld trifft. Und Sie sind derjenige, der sich weigert, ihren Illusionen Vorschub zu leisten.«
»Das kann ich doch nicht!«, rief er. »Lügen hilft nicht weiter. Damit lässt sich nicht verhindern, was geschehen muss. Es ändert nichts an der Wahrheit oder daran, dass alle anderen sie sehen. Früher oder später wird sie sich der Tatsache stellen müssen, dass er schuldig ist, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Er hat andere nicht nur verdorben, indem er ihnen die Möglichkeit bot, ihre Schwäche auszuleben, sondern sie auch noch wegen genau der Dinge erpresst, zu denen er ihnen verholfen hatte. Er schlug Profit aus der Folterung und Erniedrigung von Kindern, und er hat Parfitt ermordet. Warum, das weiß ich immer noch nicht. Für meine Begriffe war das ein sinnloser und dazu völlig überflüssiger Akt der Gewalt. Und dann hat er Hattie Benson umgebracht, weil sie mit Rupert Cardew die einzige andere Person entlastet hätte, auf die der Verdacht fast zwangsläufig fallen musste.«
Er holte zitternd Luft. »Wenn Margaret nicht einmal das zur Kenntnis nimmt, wird sie ihr Leben lang zornig und verbittert bleiben und der ganzen Welt vorwerfen, dass ihr Vater zu Unrecht gehängt wurde. Das ist eine entsetzliche Form des Wahnsinns und wird sie zerstören.«
Hester streckte die Hand noch ein Stückchen weiter aus und berührte ihn leicht. »Geben Sie ihr Zeit, Oliver. Manchen Dingen
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