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Eines Abends in Paris

Eines Abends in Paris

Titel: Eines Abends in Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Barreau
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Hand, auf dem mein Name geschrieben stand.
    »Was ist das?«
    »Von der Frau mit dem roten Mantel«, erklärte François in aller Seelenruhe und warf mir hinter seiner runden Nickelbrille einen prüfenden Blick zu. »Sie hat nach ›Alain‹ gefragt und mir dann diesen Brief gegeben.«
    »Danke.« Ich riss den Brief förmlich aus seinen Händen und verschwand damit im Kinosaal, in dem um diese Uhrzeit noch niemand war. Hastig öffnete ich das Kuvert in der verwegenen Hoffnung, dass es etwas Schönes enthielt. Es war nur ein kurzer Text. Als ich die Zeilen in der dunkelblauen Handschrift überflogen hatte, seufzte ich erleichtert und las den Brief dann noch einmal Satz für Satz.
    Lieber Alain,
    bist Du noch gut nach Hause gekommen, gestern? Am liebsten hätte ich Dich wieder zurückbegleitet in die Rue de l’Université, aber auf diese Weise wären wir wohl die ganze Nacht hin und her gewandert und heute früh musste ich zeitig aufstehen. Geschlafen habe ich trotzdem nicht. Kaum war ich oben in der Wohnung, habe ich Dich schon vermisst. Und als ich heute nach dem Aufwachen aus dem Fenster schaute und die alte Kastanie sah, war ich plötzlich sehr glücklich.
    Ich weiß gar nicht, ob Du nachher schon im Kino bist (das wäre natürlich das Schönste!), oder ob ich meinen Brief einfach hinter das Gitter legen werde, damit Du ihn findest, als kleines Zeichen von mir, bevor ich fahre. Ich bin keine Abenteurerin, Alain, aber ich freue mich – auf nächsten Mittwoch, auf Dich – und auf alles, was noch passiert.
    Ich küsse Dich, M.
    Ich bin keine Abenteurerin , hatte sie geschrieben, und es berührte mich, auch wenn der Satz ein Zitat war. Oder vielleicht gerade deswegen. Die Worte stammten aus dem Film Das grüne Leuchten, der gestern im Cinéma Paradis gespielt worden war, und die zurückhaltende Delphine sagt ihn zu ihren Freunden: »Ich bin keine Abenteurerin.«
    »Oh, du süße Mélanie!«, murmelte ich in das Halbdunkel des Kinosaals. »Nein, du bist keine Abenteurerin, aber das macht nichts. Das gerade liebe ich an dir. Deine Verletzlichkeit, deine Schüchternheit. Diese Welt ist nicht nur für die Verwegenen und Unerschrockenen gemacht, für die Lauten und Durchsetzungsstarken, nein, auch die Scheuen und Stillen, die Versponnenen und Eigensinnigen haben ihren Platz darin. Ohne sie gäbe es keine Zwischentöne, keine zartblauen Aquarelle, nicht die ungesagten Worte, die der Phantasie erst Raum geben. Und sind es nicht gerade die Träumer, die wissen, dass sich die wahren und größten Abenteuer im Herzen abspielen?«
    Ich hätte mein Plädoyer für die Menschen aus der zweiten Reihe sicherlich noch eine Weile fortgesetzt, wäre da nicht ein Rascheln gewesen, das mich aufblicken ließ. In der Eingangstür vom Kinosaal lehnte Madame Clément in ihrer geblümten Kittelschürze auf einem Besen und sah mich verzückt an.
    »Madame Clément!«, rief ich aus und räusperte mich dann, um Haltung zu gewinnen. »Belauschen Sie mich etwa?« Ich erhob mich hastig. »Wie lange stehen Sie denn schon da?«
    »Ach, Monsieur Bonnard«, seufzte sie, ohne auf meine Frage einzugehen. »Das haben Sie so schön gesagt mit den stillen Wassern und den blauen Bildern und den Träumen. Ich hätte Ihnen noch stundenlang zuhören können. Ich hatte auch mal so einen Aquarellfarbkasten als Kind – weiß gar nicht, wo der hingekommen ist. Irgendwann hört man auf mit dem Malen und auch mit dem Träumen – eigentlich schade, was?« Ein versonnenes Lächeln huschte um ihre Mundwinkel. »Aber wenn man sich verliebt, fängt man wieder an zu träumen.«
    Ich nickte einigermaßen verwirrt, faltete den kostbaren Brief und steckte ihn in die Jackentasche. Ich hatte nicht gewusst, dass in Madame Clément eine Philosophin schlummerte.
    »Hat sie Ihnen geschrieben? Was schreibt sie denn?« Sie sah mich an und grinste verschwörerisch.
    »Wie?!«, entfuhr es mir überrascht. »Also, wirklich, Madame Clément, ich muss schon sagen!« Ich fühlte mich ertappt und war nicht bereit, ihr die Zustände meines Herzens zu offenbaren. Woher wusste sie das alles überhaupt?
    »François hat mir natürlich von dem Brief erzählt.« Sie schenkte mir einen wohlwollenden Blick.
    Ich zog die Augenbrauen hoch. »Natürlich «, wiederholte ich und war erfreut zu hören, wie überaus gut die Kommunikation in meinem kleinen Kino funktionierte.
    »Wir haben uns ja schon alle gefragt, wie Ihr Abend mit der hübschen Frau im roten Mantel wohl gewesen ist«, fuhr Madame

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